Rahul Roy, heute einer der bekanntesten indischen Dokumentarfilmemacher, adressiert seine Filme primär an das indische Publikum. Seine Filme bedienen keine europäischen Klischees und setzen punktuell durchaus kulturelle Insiderkenntnisse über Indien voraus. Damit wird dem europäischen Rezipienten jedoch keinesfalls ein Verstehen verbaut, vielmehr erschließt sich ihm eine multidimensionale filmische Perspektive eines Inders auf sein Indien und dessen Menschen. Rahul Roy studierte Filmund Fernsehproduktion am Mass Communication Research Centre in Neu-Delhi und arbeitet seit 1987 als unabhängiger Dokumentarfilmer. Seine Filme wurden auf zahlreichen internationalen Festivals gezeigt.

”Linear narrative forms, typical of documentaries in the 80s and 90s, are being discarded in favour of multi-layered structures. People’s lives are not linear, so why should films be so?” Innerhalb dieses Ansatzes lässt sich Rahul Roys bisheriges Filmschaffen verorten. Im Verlauf eines Filmprojekts ‚bewegt’ er sich mit seinen Protagonisten, denn sie sind es, die die Geschichten seiner Filme schreiben. Er blendet keinen Teil ihres Lebens aus, sondern bildet in seinen Filmen bewusst die Vielschichtigkeit ihres Alltags ab. Hauptthema seines Werks ist die persönliche Identitätsfindung in einem Indien im Umbruch. Roys Anliegen ist der soziale Wandel. In seinen Filmen thematisiert er zum Beispiel die mit der gesellschaftlichen Fragilität einhergehende wachsende Arbeitslosigkeit, die neuen Bedingungen für die Adoleszenz oder die sich verändernden Vorstellungen von Geschlechterrollen.
Bis zu einem Jahr verbringt er mit seinen Protagonisten, lernt sie währenddessen gut kennen und tastet sich mit der Methode der ‚observational camera’ an ihren Alltag heran. Aufgrund seiner einfühlsamen Art gelingt es ihm, eine Atmosphäre zu schaffen, die es den Protagonisten ermöglicht, sich mit Leichtigkeit im Gespräch an ihn zu wenden und mit der Kamera zu kommunizieren. In seinen Filmen ist zu spüren, dass er nicht urteilen will und es bewusst unterlässt, dem Publikum seine Meinung aufzudrängen.

Auch wenn Roy nicht mit reißerisch-provokativen Szenen Aufsehen erregt, so bleiben seine Filme doch sozialkritisch und oft unangenehm für die indische Regierung. Die Situation für den indischen Dokumentarfilm unterscheidet sich grundsätzlich von der in Europa. In Indien bereitet die Zensur den Filmemachern zunehmend Probleme und schränkt ihre künstlerische Freiheit ein. Immer öfter werden den Filmschaffenden vom Censor Board of India Umschnitte vorgeschrieben oder das Recht zur Vorführung der Filme erst gar nicht erteilt. Höhepunkt dieser Entwicklung bildete 2004 der Ausschluss vieler politischer Dokumentarfilme vom Mumbai International Film Festival. Dagegen formte sichunter maßgeblicher Beteiligung von Rahul Roy die Protestbewegung ‚Vikalp’: ‚Films for Freedom’ und organisierte ihr eigenes unabhängiges Festival. Seither hat sich Rahul Roy zur Aufgabe gemacht, ‚Vikalp’ international bekannt zu machen. 

Michelle Novák

Filme: THE CITY BEAUTIFUL (2003), MAJMA (2001), WHEN FOUR FRIENDS MEET (2000), RED EARTH (1996), KHEL (1994), NASOOR (1991), DHARMAYUHDA (1989), INVISIBLE HANDS, UNHEARD VOICES (1988), SARGAM (1987).

Weitere Informationen: www.freedomfilmsindia.org