Zu unserem 30jährigen Jubiläum freuen wir uns, David MacDougall als Ehrengast des freiburger film forums zu begrüßen. Eine Woche lang wird er mit Filmpräsentationen, einem Work-shop während des student’s film forums (siehe S. 73), einer Paneldiskussion über das Harvard Sensory Ethnography Lab, im Dialog mit J.P. Sniadecki (siehe S. 30), und sicher auch in vielen inoffiziellen Gesprächen mit dem Publikum im produktiven Austausch sein.
David und Judith MacDougall sind seit vielen Jahren Wegbereiter der Visuellen Anthropologie. Die Begründer des Harvard Sensory Ethnography Lab betiteln ein Interview mit den MacDougalls „Radical Empirical Documentary“ (in: film quarterly, 54, 2000/01) - mit dieser Bezeichnung ist kein naiver Glaube an eine inhärente Index-Beziehung von Objekt und Film gemeint, sondern ein höchst reflexiver Umgang mit diesem Medium. Filme arbeiten wie der Alltag mit dem, was David MacDougall „soziale Ästhetik“ nennt. Damit bezeichnet er jenen Aspekt der sozialen Erfahrung, der durch ästhetische Formen – jenseits von Mode oder Zeitgeist – vermittelt wird und schließt die Formen der Macht mit ein. Man sieht, ohne bewusst zu sehen, und somit werden Filme auch zu dem, was sie als „erweiterte Metaphern des Unsichtbaren“ umschreiben. Vieles, was heute im ethnologischen Film zum guten Standard zählt, wurde in den vergangenen 30 Jahren unter maßgeblicher Beteiligung der beiden Filmschaffenden entwickelt. Als erste Dokumentarfilmer arbeiteten sie mit Synchronton, untertitelten die Bilder und erhielten somit die Stimme der Protagonisten. Sie proklamierten den nicht-privilegierten Kamerastil, der auf ungewöhnliche Perspektiven verzichtet und mit langen Einstellungen aus dem Blickwinkel der Akteure einen teilnehmenden Blick erlaubt. Ohne sich selbst ins Bild zu rücken, waren sie in ihren Filmen präsent, und ohne ihre Verantwortung für das Filmprodukt zu leugnen, verzichteten sie auf die konventionellen Mittel, mit denen Autorität und Allwissenheit suggeriert wird.
Judith und David MacDougall wurden in den USA geboren, studierten Film an der University of California in Los Angeles und begannen dort, sich mit der Visuellen Anthropologie zu beschäftigen. Bevor in der modernen Ethnologie in den 80er Jahren Kultur als dyna-misch, ausgehandelt und vielstimmig begriffen wurde, vermittelten sie diese Qualitäten bereits in zwei ostafrikanischen Trilogien. Die erste entstand mit den Jhie in Uganda und die zweite mit den Turkana in Nordkenia. Vielfach ausgezeichnet und schnell zum Klassiker geworden sind TO LIVE WITH HERDS (1972), LORANG‘S WAY (1978) und THE WED-DING CAMELS (1980). In diesen Filmen beziehen sie informelle, alltägliche Situationen ein, verfolgen somit eher das Gegenteil einer auf ausdrucksstarke Performanz zielenden freiburger film forum 2015 Fifo Klassiker 25 kinematografische Darstellung und präsentieren diese ostafrikanische Gesellschaft beeindruckend und unspektakulär.
Nach Fertigstellung der Turkana-Filme zog das Ehepaar MacDougall von Kalifornien nach Canberra, arbeitete mit Aborigines, suchte auch hier nach neuen Repräsentationsformen und erweiterte seine Kooperation mit den Protagonisten auf die Arbeit am Schneidetisch. Es entstanden GOOD-BYE OLD MAN (1975/77), THE HOUSE OPENING (1977/1980), TAKEOVER (1978/80) und weitere Filme am Australian Institute for Aboriginal Studies.
In PHOTO WALLAHS (1991) behandeln sie den Umgang mit Bildern in Indien – sie schauen Fotografen bei der Arbeit zu und zeichnen einen lokalen Diskurs über das Wesen des Abbildes nach. Auch diese Filme sind subtile Annäherungen an fremdkulturelle Zusammenhänge, denen sich die Filmemacher feinsinnig, mit Geduld und Einfühlungsvermögen nähern. Sie überzeugen durch einen inneren Kommentar und implizite und unsichtbare Leitlinien sowie durch authentische Bilder.
Nach PHOTO WALLAHS drehte David MacDougall auf Korsika TEMPUS DE BARISTAS (1993) über sozialen Wandel in einer Hirtengesellschaft und. In den 2000ern entstanden die DOON SCHOOL CHRONICLES (2000) über ein indisches Eliteinternat und weitere vier Filme folgten zu diesem Thema. 2008 schildert er in dem viel beachteten GHANDI’S CHILDREN ein Heim für obdachlose Kinder.
Ihr gemeinsames Werk umfasst mehr als 30 Filme; viele von ihnen sind an prominenter Stelle ausgezeichnet worden. In den USA, Europa und Australien unterrichteten sie Visuelle Anthropologie, und ihr Gesamtwerk erfuhr mehrere Retrospektiven. David MacDou-gall schrieb regelmäßig zum ethnografischen Film und besonders seine Veröffentlichungen „Beyond Observational Cinema“ (1975), „Transcultural Cinema“ (1998, hrsg. und mit einer Einleitung von Lucien Taylor), „The Corporeal Image: Film, Ethnography, and the Senses“ (2006), erhielten große Aufmerksamkeit.
David MacDougall ist gegenwärtig Adjunct Professor an der Research School of Humani-ties, Australian National University, Canberra. Er leitet das Projekt „Childhood and Moder -nity“, in dessen Rahmen Filme von Kindern im Alter von 10-12 Jahren in Andhra Pradesh, New Delhi, Calcutta, Rajasthan und Ladakh entstanden sind. So zum Beispiel ELEVEN AT DELWARA, der aus einem Workshop in dem gleichen Ort hervorging, in welchem Mac-Dougall dann seinen neuesten Film UNDER THE PALACE WALL drehte wiederum eine Alltagsstudie in Indien, mit historischer Dimension, die wir im diesjährigen Filmforum zeigen.
Frank Heidemann