Die Kraft des Bildes
von Jean Paul Colleyn
Da es nichts Interessanteres als die Untersuchung der menschlichen Gesellschaft gibt, ist es nicht verständlich, warum der ethnographische Film als langweilig betrachtet wird. Der Versuch, unseresgleichen darzustellen-egal ob wir am Ende der Welt oder um die Ecke wohnen -, ist ein Versuch, der gewagt werden sollte. Im Gegensatz zum Buch kann der Film die Früchte einer ‘Feldforschung’ eher einem größeren Publikum nahebringen. (…) Obwohl der Film auch nur eine Oberfläche zeigt, ist er der Niederschrift doch insofern überlegen als er die verschiedensten Aspekte menschlichen Lebens wiedergeben kann. Welches literarische Talent wäre vonnöten, um den Humor eines alten Kochs der Minyanka, welcher nach einem abenteuerlichen Leben in sein Dorf zurückkehrte, adäquat zu beschreiben, dem Talent eines jungen Geschichtenerzählers oder der verspielten Weisheit eines Priesters des Nya-Kults gerecht zu werden? (…) Über die reine Illustration vieler Bereiche hinaus, verhilft ein sensitives Gedächtnis zum besseren Verständnis. Wie könnte man die Musik aus Afrika, aus Bali oder von sonst woher verstehen? Wie wären Tanz, Gesang, Masken oder verschiedene Kulte verständlich zu machen, ohne sich des Bildes und Tons zu bedienen? Welche Schwierigkeit besteht darin, allein durch Spracheeine Architektur, eine Technologie oder einfach die Gesten der Arbeit zu beschreiben? Um so mehr werden die Schwierigkeiten des Beschreibens deutlich bei den Ritualen oder Festen, die selbst spontane Ausdrucksformen sind. (…) Das Bild befriedigt das Grundbedürfnis des Zuschauers zu wissen, wie etwas aussieht. Was gleicht einem Dorf, einer Landschaft oder einer Lehmburg? Was ist einer Tracht, einer Heirat oder einem Totenfest ähnlich? Ohne von abstrakten graphischen Zeichen abzuhängen, nimmt der Zuschauer wahr, entdeckt und läßt sich von der fremden Kultur beeinflussen; letztlich macht er selbst eine Erfahrung. Der Film gibt nicht vor, die Realität zu ersetzen oder sich über andere Formen der Veröffentlichungen zu stellen; seine Kraft besteht darin, daß er zu ’sehen’ gibt. Wenn er es auch nur für einen kurzen Augenblick schafft, sich an die Stelle des Ethnologen zu setzen, und dieser es schafft, einige Prinzipien des sozialen Lebens zu vermitteln, dann hat sich das Unternehmen gelohnt.
Die ‘filmische’ Handschrift
Für viele Wissenschaftler ist die Kraft des Bildes nur ein vergiftetes Geschenk, das die Wahrnehmung der Realität verzerrt. Der Film sei deshalb kein wissenschaftliches Hilfsmittel, weil das Bild nur eine falsche Erscheinung zu geben vermag und der Schnitt die Fakten manipuliere. Nur wenige Filmemacher behaupten jedoch, die Wirklichkeit getreu zu ‘reproduzieren’. Auch wenn der Filmemacher sich bemüht, kann er den Zuschauer nie in die Situation versetzen, in der sich der Filmemacher während seiner Feldforschung befand. Nie wird sich der zweite Blick vom ersten befreien können. Wie Sartre und Merleau-Ponty schon bemerkten, bezieht sich die erste Wahrnehmung schon auf etwas anderes als auf sich selbst: auf eine Kultur, eine Erinnerung, ein Urteil. Im Grunde ist jede Beobachtung an sich einer Montage unterworfen. Natürlich beinhaltet jede Aufnahme auch gleichzeitig einen Schnitt; natürlich beschränkt der Rahmen die Filmaufnahme, bedingt immer auch ein ‘hors-champ’, zeigt Dinge, die aus ihrem Gesamtzusammenhang herausgerissen-erscheinen. Man braucht eine bestimmte Naivität glauben zu wollen, es gäbe eine unbeeinflußte Wirklichkeit. Der Film, auch der Dokumentarfilm, ist immer nur eine Übung, die nur für das genommen werden kann, was sie ist. Um so besser, wenn die Montage dem Filmenden die Möglichkeiten gibt, seine Ideen auszudrücken. Bestimmte Kreise sagen allzu schnell, daß das Bild keine Analyse gibt. Wenn das stimmen würde, brauchte sich die Kritik nicht so bemühen, die Botschaften einer Vision der Welt zu entziffern , die durch einen Film transportiert werden - sei es nun ein Dokumentar-oder ein Spielfilm.Das Wichtige am Film, genauso wie in der Literatur, besteht darin, das Verhältnis zwischen Kunstwerk und der Realität zu hinterfragen. Ist er nun Schriftsteller oder Filmemacher, der Ethnologe arbeitet immer über eine Vorstellung von Realität; darin liegt die Herausforderung der theoretischen Auseinandersetzung. Es ist eine Banalität zu sagen, daß das Schreiben immer von einer Vorstellung ausgeht und so eine befreiende Wirkung hat; es wäre aber absurd daraus zu folgern, daß dadurch der bildliche Ausdruckunterlegen wäre.
In den Geisteswissenschaften gilt das Prinzip der Ungewißheit, sowohl für das geschriebene Wort, als auch für den Film. Die schriftlichen Notizen des Ethnographen sind immer auch Ausdruck seiner eigenen Kultur, seines eigenen Gedächtnisses, seines Urteils und seiner Intuition. Auch seine Untersuchung beinhaltet ein ‘hors-champ’, und zwar nicht nur in theoretischer Hinsicht (je nach seinen Interessen und seiner Weltanschauung), sondern ebenso aus ganz praktischen Gründen. Das Alphabet bleibt ein sehr einfaches Mittel, Erinnerungen festzuhalten. Wie kann man zum Beipiel ein Ritual beobachten und gleichzeitig Notizen machen, ohne gleichzeitig die Hälfte zu verlieren?
Es ist widersprüchlich, den trügerischen Aspekt eines Bildes, das immerhin den Vorteil hat, irgendwo in einem bestimmten Augenblick aufgenommen worden zu sein, der Strenge eines Textes gegenüberstellen, der nicht unbedingt weniger Lücken und Graubereiche aufweist. Wie oft hat man die Manipulation des Films durch die Montage hervorgehoben, obwohl gerade nichts leichter ist, einen Text zu zerstückeln, zu kombinieren, zu manipulieren und wieder zusammenzusetzen. Es erscheint wie ein unnützer Streit, da der Versuch objektiv zu sein keine Frage des Mediums ist, sondern vielmehr eine Frage der theoretischen Reflexion.
Eine theoretisch untermauerte Wahl des ästhethischen Mittels braucht nicht als eine Schwäche ausgelegt zu werden. Wieso sollte man einem Filmemacher vorwerfen, Ideen und Stil zu haben? Wenn es überhaupt große Historiker und Ethnologen gibt, so deshalb, weil es Autoren sind, die einen persönlichen Stil entwickelt haben. Die guten ethnolgischen Bücher verdanken ihre Aussagekraft der Qualität ihrer Recherche und ihres Stils. Zugespitzt ausgedrückt, laufen viele Debatten um den ethnographischen Film darauf hinaus, daß der Filmemacher nichts weiter zu sein brauche, als eine Art passiver Aufzeichnungs-Maschine.
Keine Methode darf zum unumstößlichen Gebot gemacht werden. Ignorieren wir die filmischen ‘Patentrezepte’, arbeiten wir zu zweit, zu dritt oder zu mehreren, je nach Themen und Gebieten, benutzen wir genauso gut Film wie Video, bedienen wir uns der Kamera auf der Schulter oder auf dem Stativ, der Objektive mit großen und kleinen Brennweiten, greifen wir ebenso zurück auf den Schnitt wie auf die ‘plan-sequence’, auf die Großaufnahme und die Tiefenschärfe. Ohne uns einem Dogma zu unterwerfen, behalten wir uns die Freiheit vor, Menschen oder die Wirklichkeit sprechen zu lassen, je nachdem ob wir eine sehr komplexe Erfahrung vermitteln wollen oder eine Analyse anbieten. Das wichtigste ist nicht, einer Schule anzugehören oder einem Ismus zu frönen, sondern für jeden Film eine Idee zu finden, einen Stil oder eine Stimmigkeit, einen Rhythmus und eine Wärme.
Die Hauptsache ist, daß wir die Menschen nicht filmen als Wesen ohne Sprache. Geben wir ihnen ihre Stimmen, lassen wir sie ihre Schönheit zeigen, ihre Intelligenz und sprachliche Gewandtheit, ihre körperliche Grazie und ihre Gefühle ausdrücken. Als Zeichen des Respekts vor ihrer sprachlichen Eloquenz sollten wir lieber ihre Sprache Untertiteln als sie zu synchronisieren. Es ist nie angenehm ’synchronisiert’ zu werden.
Ein ethnologischer Film kann unmöglich gedreht werden, ohne daß eine enge Beziehung zwischen dem Forscher mit seinen ‘Gastgebern’ besteht und ohne die tiefe Kenntnis ihrer Beziehung zur Welt.
Die eindringliche Wirkung der Kamera darf nicht unterschätzt werden: sein Leben vordem Auge des schwarzen Kastens zu leben ist nicht unbedingt eine einfache Sache. Man sollte sich aber auch nicht Probleme vorstellen, wo es gar keine gibt. Man dreht nicht ‘gegen’ oder ‘über’ die Leute, man arbeitet ‘mit’ ihnen. Das Abenteuer kann nur leidenschaftlich sein, wenn es ein geteiltes ist. Wenn wir als Ethnologen und Filmemacher willkommen sind, so deshalb, weil unsere Gastgeber unser Vergnügen verstanden haben unter ihnen weilen zu dürfen. In unseren Augen drückt ein guter Dokumentarfilm ein tiefes Verständnis aus, das sich unter mindestens zwei Gesichtspunkten als erstaunlich einfach erweist. Zum einen tritt die Anwesenheit des Filmemachers zurück, weil das gelebte Leben der ‘Schauspieler’ in diesem Moment interessanter ist als die Anwesenheit des Filmemachers. Die Kamera wird dabei nicht vergessen, sondern ignoriert, weil die Protagonisten andere Dinge zu tun haben. Zum anderen schafft die Beziehung zwischen Filmendem und Gefilmten erst die Voraussetzung, tiefere Schichten der Wirklichkeit aufzudecken. Der Sinn schafft sich für und durch die Kamera; so zum Beispiel, wenn die Besessene eines Umbanda-Kultes in Belem sich dem Filmemacher erklärt.
Filmen erfordert eine Arbeit an sich selber: man muß sich von der Atmosphäre prägen lassen, sich durch langsame Annäherung kennenlernen, auf Details besonders achten, andere ‘erraten’, ihre Reaktionen voraussehen, ihren Rhythmus, ihre Impulse, ihre Scheu, ihre Zwänge und Verbote respektieren. Versucht man, nicht nur spontan drauflos zu filmen muß man sich auf eine lange Recherche einstellen, die es allein ermöglicht nichts auszuschließen, in dem man unter der Vielfältigkeit der Fakten, der Ereignisse und der Aussagen das Wichtigste erkennt. In der Regel machen die Filmemacher, die keine ethnologische oder soziologische Ausbildung besitzen, bessere Dokumentarfilme und Reportagen als die Wissenschaftler, die nichts vom Film verstehen…) Die Intuition ist kein Gegensatz zur Methode, genauso wenig wie Instinkt ein Gegensatz zu Kultur ist.
Der ethnographische Film ist nicht nur eine Kunst des Augenblicks. Der Filmemacher darf nicht Gefangener der Ereignisse sein, die ihn überfordern. Er muß wissen, was ihn erwartet; er muß fähig sein, eine Situation zu meistern, in dem er das zu unterscheiden weiß, was Sinn gibt. Zusammen mit einem Wissenschaftler in anderen Kulturen zu filmen, in denen dieser während langer Jahre arbeitete, ist eine faszinierende Erfahrung, die weit mehr als einfache Reportage ist. Das ‘Feld’ ist dabei schon abgesteckt und vermessen, man weiß schon, worauf man sich konzentrieren muß und worauf man seine Blicke richten muß, selbst wenn manchmal naive Fragen Diskussionen provozieren können.
Es liegt in der Logik des Films, daß der Zuschauer nie außen vor bleiben darf. Die Kraft eines Dokumentarfilms erstreckt sich immer auch auf die Möglichkeit, den Zuschauer auf seine eigene Identität zu verweisen. Jeder Film über das ‘Andere’ sollte beim Zuschauer zum Nachdenken übersieh selbst führen. In diesem Sinne hat das Aufzeigen ’symbolischer Systeme’ (im Sinne von Claude Levi-Strauss in seinem Vorwort zum Werk von Marcel Mauss), derer sich Menschen in ihrem Überlebenskampf bedienen, nicht nur eine ‘exotische’ Wirkung. Der Zuschauer kann eine Erfahrung immer nur vor seinem Erfahrungshorizont machen. Der visuelle Auf bau eines ‘guten’ Films veranlaßt zum Nachdenken, nicht der Kommentar. Allein auf einen Kommentar zurückzugreifen, um dem Zuschauer das zu sagen, was er zu denken hat, ist eine Schwäche. Der Kommentar soll nicht aus Prinzip verdammt werden, er kann dazu dienen, einige wichtige Informationen zu Zeit und Ort über das Bild hinaus zu vermitteln, ohne die das Bild nicht verständlich wäre. (…)
(Auszug aus: Jean-Paul Colleyn: Le texte, le film et le ‘terrain’. ln: ACME Films, Paris 1991,Seite 6- 13; Übersetzung: Florence Buchmann, Werner Kobe)