David und Judith MacDougall sind seit vielen Jahren Wegbereiter der Visuellen Anthropologie. Ihr Ansatz lässt sich nicht in wenigen Sätzen beschreiben, doch mit dem Titel eines Interviews, »Radical Empirical Documentary«, bringen Ilisa Barbash und Lucien Taylor (in: film quarterly, 54, 2000/01) Wesentliches auf den Punkt. Mit dieser Bezeichnung ist kein naiver Glaube an eine inhärente Index-Beziehung von Objekt und Film gemeint, sondern ein höchst reflexiver Umgang mit diesem Medium. Film lässt sich weder mit Texten noch mit Abbildern vergleichen, denn er schafft, so Judith MacDougall, eine eigene Realität, die ohne den evokativen Akt des Filmsehens und -hörens nicht denkbar ist. Sehen und Hören, Offensichtliches und Subtiles, werden nicht separat erfasst, sondern fügen sich zu ganzheitlichen, aber durchaus ambivalenten Botschaften. Filme arbeiten wie der Alltag mit dem, was David MacDougall »soziale Ästhetik« nennt. Damit bezeichnet er jenen Aspekt der sozialen Erfahrung, der durch ästhetische Formen – jenseits von Mode oder Zeitgeist – vermittelt wird und schließt die Formen der Macht mit ein. Man sieht, ohne bewusst zu sehen, und somit werden Filme auch zu dem, was sie als »erweiterte Metaphern des Unsichtbaren« umschreiben. 

Vieles, was heute im ethnologischen Film zum guten Standard zählt, wurde in den vergangenen 30 Jahren unter maßgeblicher Beteiligung der beiden Filmschaffenden entwickelt. Als erste Dokumentarfilmer arbeiteten sie mit Synchronton, untertitelten die Bilder und erhielten somit die Stimme der Protagonisten. Sie proklamierten den nichtprivilegierten Kamerastil, der auf ungewöhnliche Perspektiven verzichtet und mit langen Einstellungen aus dem Blickwinkel der Akteure einen teilnehmenden Blick erlaubt. Ohne sich selbst ins Bild zu rücken, waren sie in ihren Filmen präsent, und ohne ihre Verantwortung für das Filmprodukt zu leugnen, verzichteten sie auf die konventionellen Mittel, mit denen Autorität und Allwissenheit suggeriert wird. Bevor in der modernen Ethnologie in den 80er Jahren Kultur als dynamisch, ausgehandelt und vielstimmig begriffen wurde, vermittelten sie diese Qualitäten bereits in zwei ostafrikanischen Trilogien. Die erste entstand mit den Jhie in Uganda und die zweite mit den Turkana in Nordkenia. Vielfach ausgezeichnet und schnell zum Klassiker geworden sind To Live With Herds (1968/69), The Wedding Camels (1974/77) und Lorang´s Way (1974/79). In diesen Filmen beziehen sie informelle, alltägliche Situationen ein, verfolgen somit eher das Gegenteil einer auf ausdrucksstarke Performanz zielende kinematographische Darstellung und präsentieren diese ostafrikanische Gesellschaft beeindruckend und unspektakulär. 

Nach Fertigstellung der Turkana-Filme zog das Ehepaar MacDougall von Kalifornien nach Canberra, arbeitete mit Aborigines, suchte auch hier nach neuen Repräsentationsformen und erweiterte seine Kooperation mit den Protagonisten auf die Arbeit am Schneidetisch. Es entstanden Goodbye old Man (1975/77), The House Opening (1977/1980), Takeover (1978/80) und weitere Filme am Australian Institute for Aboriginal Studies. In Photowallahs (1988/91) behandeln sie den Umgang mit Bildern im indischen Kontext – sie schauen Fotografen bei der Arbeit zu und zeichnen einen lokalen Diskurs über das Wesen des Abbildes nach. Auch diese Filme sind subtile Annäherungen an fremdkulturelle Zusammenhänge, denen sich die Filmemacher feinsinnig, mit Geduld und Einfühlungsvermögen nähern. Sie überzeugen durch einen inneren Kommentar und implizite und unsichtbare Leitlinien sowie durch authentische Bilder. Nach Photowallahs drehte David MacDougall auf Korsika Tempus de Barrista (Time of the Barman) (1992/93) über sozialen Wandel in einer Hirtengesellschaft und Judith MacDougall in Indien Diya (1997/2001) über die Lebensgeschichte eines Objekts, einer getöpferten Öllampe, und die Menschen, die sie in Händen halten. Derzeit entsteht David MacDougalls Trilogie über die soziale Ästhetik in einem indischem Eliteinternat, dessen erster Teil Doon School Chronicles (1997/2000) bereits vorliegt. Ihr gemeinsames Werk umfasst mehr als 30 Filme; viele von ihnen sind an prominenter Stelle ausgezeichnet worden. In den USA, Europa und Australien unterrichteten sie Visuelle Anthropologie, und ihr Gesamtwerk erfuhr mehrere Retrospektiven. Die zentralen Aufsätze von David MacDougall wurden von Lucien Taylor 1988 bei Princeton University Press mit dem Titel ‘Transcultural Cinema’ herausgegeben. 

Judith und David MacDougall wurden in den USA geboren. Nach dem Universitätsabschluss am Beloit College und der Harvard Universität studierten sie an der Universität von Kalifornien (UCLA) in Los Angeles Film. Im Rahmen eines neu eingerichteten, ethnografisch orientierten Filmprogramms begannen sie, sich mit der Visuellen Anthropologie zu beschäftigen. Aus diesen Anfängen entwickelte sich eine über Jahrzehnte währende, sehr innovative wie produktive Auseinandersetzung mit der Visuellen Anthropologie. Beide leben heute in Australien. (Frank Heidemann)