Dieser dreiteilige Film läßt die maghrebinischen Immigranten in Frankreich zu Wort kommen: Väter (Teil I), Mütter (Teil II) und ihre Kinder (Teil III). Anhand von Archivmaterial und Interviews analysiert Yamina Benguigui die »Maschinerie« der Immigration. Während die Väter in den 50er Jahren ohne ihre Familien kamen, in Baracken lebten und hart arbeiteten, legten die Mütter, in den 60er Jahren nachgezogen, ihren Schleier ab und strebten nach mehr Unabhängigkeit. Die Kinder, meist schon in Frankreich geboren, sind noch stärker den Widersprüchen der französischen Einwanderungspolitik ausgesetzt.
EINE ART ABSICHTSERKLÄRUNG
von Yamina Benguigui
Am Anfang stand die Begegnung mit einer Stadt, Marseille. Auf’s Geradewohl während der Dreharbeiten zu ‘Femmes d’Islam’ (1994). Ich filmte damals mehrere Frauen und befragte sie zu ihrer Lage als Muslimin. Vertrauensvoll und vor laufender Kamera wagten sie es, über ihre Leiden als fügsame Ehefrauen zu sprechen – einige hatten ihre Kinder durch Aids oder Drogenüberdosen verloren…Je mehr ich zuhörte, desto mehr begann ich mich zu fragen, wie diese Frauen nach Frankreich gelangt sein mochten. Und sie erzählten. Die Bilder ergaben sich von selbst: die Ankunft im Hafen, danach die Entdeckung der Bidonvilles, die Einsamkeit. Ich dachte an ihre Ehemänner und natürlich an die Väter. Fragen, die mich um Jahre zurückführten in jenes kleine Dorf im Norden Frankreichs, in das meine Eltern in den 50er Jahren aus Algerien emigriert waren.
Ich sehe mein Haus, die graue Steinfassade, ähnlich all den andern, und dennoch nicht ganz gleich. Vor den Fassaden der anderen wuchsen Rosen, Geranien oder Gartenblumen, wärend vor meiner nur Unkräuter und Wildpflanzen emporschoßen, ohne daß irgendjemand daran gedacht hätte, sie auszureißen. Ich erinnere mich des Nachbarn, der sich, sobald er meinen Vater sah, freundlich erkundigte: » Nun, Ahmed, kehrst du dieses Jahr in die Heimat zurück?« Und mein Vater, erstaunt seinen Vornamen auf der Straße zu hören, antwortete mit einem verlegenen Lächeln: »Ja! Dieses Jahr! In einigen Monaten!« Ich sehe meine Mutter vor mir, wie sie im Wohnzimmer hin und her geht, wo sich die Kartonschachteln stapelten, die unsere Kleider, das Geschirr, die Bettwäsche und die Servietten enthielten…Ich höre sie noch immer zu sich selbst sagen: »Im nächsten Jahr werden wir gehen. Werden wir zurückkehren in unser Land!«
Ans Heimatland meiner Eltern hatte ich nur Ferienerinnerungen: Ein kleines Dorf in den Bergen, weiße Häuser, die drückende Sonne, ein Brunnen. Eines Abends im Jahre 1976 saß die ganze Familie wie gewöhnlich um den Tisch. Mein Vater stellte den Fernseher an, um Nachrichten zu hören. In eine beinahe religiöse Stille hinein verkündete der Sprecher mit eintöniger Stimme: »Das Parlament hat soeben über das Gesetz der Rückkehrhilfe für Emigranten abgestimmt. Die Abkommen mit den verschiedenen Regierungen der Länder des Maghreb sind unterzeichnet. Jedes Familienoberhaupt wird 10.000 Francs erhalten und kann eine Ausbildung erhalten, die ihm die Wiedereingliederung im Herkunftsland erleichtern soll. Diese Rückkehrhilfe beruht auf freiwilliger Basis.« Meine Mutter stand auf und wandte sich den an der Wand aufgestapelten Kartonschachteln zu. Dann drehte sie den Kopf. Mein Blick kreuzte den ihren. Ihre Pupillen, dunkel, riesig, waren voller Angst. »Aber, Mutter, sie haben gesagt, es sei freiwillig!« versuchte ich es ihr zu erklären.
Zeit ist vergangen. Mein Vater hat die Rückkehrhilfe nicht beantragt, aber meine Mutter fuhr fort, diese ewigen Schachteln aufzustapeln. Meine Brüder und Schwestern sind mit den Daumen auf den Kofferschlössern aufgewachsen. Ich auch.
Mehr Zeit ist vergangen. Das Provisorium hat sich etwas gefestigt. Immer weniger oft, und mit weniger Überzeugung sagte uns meine Mutter: » Nächstes Jahr, vielleicht…«
Zwanzig Jahre sind vergangen. Meine Eltern sind immer noch da. Diese Familien, die beunruhigen, das sind meine Eltern. Angesichts der allgegenwärtigen Gerüchte geladen mit Verdacht und Gewalt, was kann ich da sagen außer meinerseits zu fragen: »Was habt ihr aus meinem Vater gemacht? Was habt ihr aus meiner Mutter gemacht? Was habt ihr aus meinen Eltern gemacht, daß sie so stumm geworden sind? Was habt ihr ihnen gesagt, daß sie uns nicht aus dieser Erde entwurzeln wollten, in die wir geboren wurden? Wer sind wir heute? Einwanderer? Nein! Die Kinder der Einwanderer? Franzosen ausländischer Herkunft? Moslems?
Wie auch schon für ‘Femmes d’Islam’ begann ich über die Einwanderung aus dem Maghreb zu recherchieren. Diese Suche ganz am Anfang hat mir aufgezeigt, daß sie eng mit der französischen Wirtschaftsgeschichte verflochten ist. Ich habe zuerst die Politiker aufgesucht, die für diese Wirtschaft, für die Einwanderung und die Integration verantwortlich sind. Danach habe ich die Väter besucht. Sie kamen allein, in den 50ern, auf ausdrücklichen Wunsch französischer Unternehmen, welche eine riesige Arbeiterschaft rekrutierten, – nicht sehr qualifiziert, unterbezahlt, einfach zu beschäftigen und problemlos wieder nach Hause zu schicken – um die italienischen und portugiesischen Arbeitskräfte zu ersetzen. Sie haben das Land nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut. Die Geschichte dieser Menschen wurde durch ein stilles Abkommen besiegelt: Im Projekt des Aufbruchs war das Projekt der Rückkehr enthalten. Nicht einmal der Algerienkrieg hatte eine Wirkung auf dieses Projekt. Die französischen Unternehmen rekrutierten weiter. Die Väter sind geblieben, ohne sich definitiv niederzulassen. 1974 befürwortet die Regierung eine Politik der Familienzusammenführung, die nun die Mütter nach Frankreich bringt. Verpflichtet ihren Gatten zu folgen, leben sie abgeschottet am Rande Frankreichs, gefangen in einer doppelten Aufgabe: Die Traditionen und die Religion vor dem Hintergrund der fixen Idee einer Rückkehr zu erhalten und sich gegenüber der Außenwelt zu öffnen, durch die Vermittlung ihrer Kinder. Es sind diese Kinder, die das Projekt der Rückkehr definitiv verhindert haben. Von der Vergangenheit ihrer Väter und Mütter kannten die Kinder, die ich befragt habe, und die alle als Kleinkinder nach Frankreich gekommen sind oder hier geboren wurden, nur Brocken: Kolonialismus, Algerienkrieg, Unabhängigkeit, Immigration… Von der persönlichen Geschichte, die ihre Eltern durchleben mußten, wußten sie praktisch nichts. Aufgewachsen im Provisorium, zerrissen zwischen zwei Ländern, aber Erben zweier Kulturen, trotz der Leiden, haben sie durch ihre Präsenz auf dem Boden Frankreichs das, was ursprünglich als Immigration von Arbeit gedacht war, in eine Immigration von Menschen verwandelt. Ohne das Wissen ihrer Eltern, ohne das Wissen Frankreichs, das sich über ihre Existenz zu wundern scheint, sind sie da. Ihre Schreie, die Gewalt sind die extremen Formen des legitimen Anspruches: »Ich gehöre zu dieser Gesellschaft!«
Dieser Film ist die Erzählung meiner Reise in das Herz der maghrebinischen Einwanderung in Frankreich. Die Geschichte der Väter, der Mütter, der Kinder, die Geschichte meines Vaters, meiner Mutter, meine eigene. Ich dachte, ich könnte mich durch das Kino von meiner Geschichte lösen. Ich bin genau dadurch zurückgeführt worden. Es ist nicht so, daß ich vergessen hätte, woher ich gekommen bin oder wer ich war. Es ist nur so, daß ich kaum je an das warum gedacht habe…
Das Kino hat mir eine Identität geliehen, – Filmemacherin – um diejenige zu rekonstruieren, die ich vernachlässigt hatte – Tochter von Immigranten. Auf der Suche nach dieser schwierigen Identität wurden viele vom Islam angezogen, andere rutschten in die Kriminalität ab. Vielen von ihnen ist die Integration gelungen. Wie auch immer, jedes von Immigranten abstammende Kind, trägt den hartnäckigen Willen in sich, seine Würde zu rehabilitieren, um sich zu stärken. Die Väter wissen darum, aber ihre Selbstachtung ist im Gastland zu oft verhöhnt, mißachtet worden.
Die Erinnerung ist essentiell, um den Kindern der Immigration die Würde zurückzugeben, die ihre Väter nicht immer hatten.«
Yamina Benguigui, in Franreich geboren, ist als Regisseurin, Produzentin und Autorin tätig
FEMMES D’ ISLAM – Le Voile et la République / Le Voile et le Silence / Le Voile et la Peur (1994); LA MAISON DE KATE – Un lieu d’espoir (1995)