Im Oktober 2012, knapp 70 Jahre nach Kriegsende, wurde in Berlin das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas eingeweiht. Bis zu einer halben Million Menschen wurden in Deutschland und anderen europäischen Ländern Opfer der nationalsozialistischen Rassenideologie. Der Völkermord an den Sinti und Roma, so der niederländische Sinto und Holocaust-Überlebende Zoni Weisz bei der Einweihung des Denkmals, ist der „vergessene Holocaust“.
Jahrzehntelang hat die deutsche Nachkriegsgesellschaft diesen Völkermord verdrängt und verleugnet. Den Opfern wurde eine materielle “Wiedergutmachung” und die Anerkennung der erlittenen Verfolgungen verweigert. Erst vier Jahrzehnte später und nur auf den energischen Protest von Sinti und Roma hin erkannte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt die rassistische Motivation des Genozids politisch an. Und erst am 27. Januar 2011 durfte neben Vertretern anderer Opfergruppen auch ein Sinto am Holocaust-Gedenktag vor dem Bundestag sprechen. Wie in der Politik wurde dieser andere Völkermord auch von der Wissenschaft jahrzehntelang weitgehend ignoriert. Bis heute ist dieser Teil der deutschen Geschichte kaum im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert, wird der Genozid an den Sinti und Roma etwa in Schulen und Medien allenfalls am Rande behandelt. „Die Nicht-Thematisierung ist geeignet, sowohl das Trauma der Überlebenden zu konservieren wie das Fortwirken des Stigmas bei staatlichen Organen und Öffentlichkeit.“ (Herbert Uerlings)
Die Verfolgung während des Nationalsozialismus konnte an eine lange europäische Tradition hartnäckiger Diskriminierung und Stigmatisierung der Romvölker anknüpfen, die bis heute fortwirkt. Entscheidend ist hier, das belegen auch wieder die aktuellen Diskussionen über ‚Armutsmigranten‘ aus Südosteuropa, die Diffamierung der ‚Zigeuner‘ als geborene Asoziale – ein Topos, der zum Argument für ihren gesellschaftlichen Ausschluss wurde.
Obwohl sie bereits vor 600 Jahren nach Europa einwanderten, werden die Romvölker in Deutschland und anderen europäischen Ländern von der Mehrheit als unzugehörig betrachtet und wie kaum eine andere Minderheit diskriminiert. Ihre brutale Verfolgung und Massenvertreibung während des Krieges und nach der Staatengründung im Kosovo zeigen dies besonders drastisch. Viele der Vertriebenen leben heute als nur vorübergehend geduldete Flüchtlinge in Deutschland. Auf sie und ihre hier aufgewachsenen Kinder wartet die Abschiebung in den Kosovo, wo sie Menschenrechtsorganisationen zufolge katastrophale Lebensbedingungen vorfinden werden.
Mit unserem Programmschwerpunkt möchten wir einen Beitrag zur Aufarbeitung des deutschen Umgangs mit den Sinti und Roma leisten und auf ihre aktuelle Situation in Deutschland und Osteuropa aufmerksam machen.
Das Trauma der Überlebenden zeigt der Dokumentarfilm ZIGEUNER SEIN (1970) des deutschen Regisseurs Peter Nestler. Es ist einer der ersten Filme, die sich mit dem Genozid an den Sinti und Roma, seiner Nicht-Thematisierung und dem Fortwirken des Antiziganismus im Nachkriegs-Deutschland und in Österreich beschäftigen. In ebenso beeindruckenden wie berührenden Interviews hält er die Erinnerungen der Überlebenden filmisch fest.
Wie es dazu kommen konnte, dass die Roma seit ihrer Ankunft vor ca. 600 Jahren in Europa ausgegrenzt und verfolgt wurden, analysiert der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal in seinem vielbeachteten Buch „Europa erfindet die Zigeuner“ (2012). Für ihn liegen die Ursachen des Antiziganismus tief in der europäischen Kultur und Tradition begründet. Je weiter Europa auf dem Weg in die Moderne voranschritt, desto schärfer die Ablehnung der „Zigeuner“, denen man mangelnde Zivilisationsfähigkeit unterstellte und die als die wichtigsten „Anderen“ bei der Erfindung der Nation fungierten.
Seit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und dem Wiedererstarken nationalistischer Bewegungen in Osteuropa ist der dortige Antiziganismus stark angewachsen. In OUR SCHOOL dokumentieren Mona Nicoară und Miruna Coca-Cozma über vier Jahre hinweg Roma-Kinder in einem rumänischen Dorf, die an einem schulischen Integrationsprojekt teilnehmen. Die Maßnahmen zur Abschaffung des separaten Schulunterrichts scheitern letztlich an der Ablehnung der Beteiligten. Besonders dramatisch ist die Lage in Ungarn, wo offener Rassismus und Pogromstimmung herrschen. Ausgehend von einer realen Mordserie, der acht Menschen zum Opfer fielen, schildert der ungarische Regisseur BenceFliegauf in seinem Spielfilm JUST THE WIND die angst- und spannungsgeladene Situation nach der Ermordung einer Roma-Familie.
Europa erweitert sich, schottet sich aber immer mehr ab. Der Dokumentarfilm REVISION recherchiert den Fall von EudacheCalderar und Grigore Velcu, zwei von fast 15.000 Einwanderern, die zwischen 1988 und 2009 an der Grenze der EU starben. Bei dem Versuch, die europäische Außengrenze zu überschreiten, wurden sie von Jägern erschossen, angeblich weil man sie mit Wildschweinen verwechselte. Das Gericht sprach die Angeklagten frei; die Familien der Opfer wussten nicht, das jemals ein Prozess stattgefunden hat.
Wer es doch über die Grenze schafft, ist damit noch nicht in Sicherheit. Der aus Sarajevo stammende Berliner Fotograf Nihad Nino Pusija porträtiert und begleitet seit 20 Jahren junge Roma aus dem früheren Jugoslawien, die in Deutschland von der Abschiebung bedroht sind oder bereits abgeschoben wurden. Seine Ausstellung DULDUNG DELUXE ist als Begleitprogramm zum freiburgerfilmforumim CentreCulturel Français zu sehen; den 1994 begonnenen Foto-Zyklus ROMA IN EUROPA zeigen wir in der Galerie Alter Wiehrebahnhof. Was Pusijas Fotografien vereint, ist die Darstellung individueller Schicksale jenseits der geläufigen Klischees; sie zeugen von dem tiefen Vertrauen der Porträtierten, das der Fotograf während seiner langjährigen Arbeit erworben hat.
Geht Gewalt nur von Extremisten aus oder kommt sie aus der Mitte der Gesellschaft und dem staatlichen Apparat? Die Situation in Deutschland und Frankreich ist Gegenstand einer Podiumsdiskussion zum Thema Abschiebung, Duldung, Bleiberecht mit Silvio Peritore, Leiter des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg, Valdet Ademaj, Mitbegründer der Jugendverbands Amaro Drom e.V. in Freiburg und Marie-Reine Haug Präsidentin des Vereins APPONA68, Mulhouse. Wie fast alle Entwürfe ‚kulturell Anderer‘ ist auch das Bild der ‚Zigeuner‘ von Genderkonstruktionen überlagert. Das Verhältnis von Antiziganismus und Geschlecht diskutiert in seinem Vortrag der Berliner Politikwissenschaftler Markus End.
Neriman Bayram