Einige persönliche Eindrücke von Karsten Krüger.

Ich erinnere mich noch genau, als wäre es gestern gewesen. Es war im Mai 1989, ich kam gerade von einer Reise in den Südwesten Chinas, in die Provinz Yunnan, zurück nach Göttingen und erhielt einen Anruf eines befreundeten Ethnologen. Ob ich denn wisse, daß Chinesen zum ‘Film Forum’ nach Freiburg kämen, um dort alte ethnographische Filme zu zeigen. “Zum ersten Mal überhaupt für ein westliches Publikum!”. Natürlich wußte ich dies nicht, aber nach dieser Nachricht war ich wie elektrisiert. Ich kannte die fraglichen Filme noch aus meiner Zeit in China Anfang der 80er Jahre und wenn diese Information wirklich wahr sein sollte, so wäre sie eine kleine Sensation. Diese Filme nämlich, die sämtlich in der Zeit von 1956/57 bis zum Ausbruch der Kulturrevolution 1966 in der VR China gedreht worden waren, wurden noch niemals in der Öffentlichkeit, nicht einmal in der chinesischen, gezeigt. Nur ausgewählte Forscher hatten Zugang zu diesen Filmmaterialien und nur bestimmte Politiker, die sich mit “Nationalitätenfragen” beschäftigen, konnten diese Filme sehen. Jahrzehnte wurden sie in Giftschränken versteckt gehalten.

Wir von der AG Film der DGV hatten ein zweitägiges Treffen organisiert, das wie das ‘Film Forum Freiburg’ ebenfalls im ‘Alten Wiehrebahnhof’ stattfand. Auf diesem Treffen lernte ich die dreiköpfige chinesische Delegation kennen. Ihr “Anführer” war der schillernde Feng Youli, der Herausgeber der Zeitschrift “China Screen”. Als Halb-Chinese und Russe hatte er eine Sonderstellung inne. Diese wurde noch durch den Umstand verstärkt, daß er in den 30er Jahren in Beijing auf die deutsche Schule ging und zusammen mit Peer Fischer, der später deutscher Botschafter in China wurde, die Schulbank drückte. Mit ihm waren Xin Yinyi, ein junger Filmemacher aus Beijing, der einen Film in Tibet gedreht hatte, und Yang Guanghai in Freiburg. Yang Guanghai ist Bai d.h. eigentlich spricht er eine tibeto-birmanische Sprache. Sein Geburtsort liegt in der Provinz Yunnan, in der Nähe der Stadt Dali am Er-Hai See, einem der traditionellen Siedlungsgebiete der Bai. Die Bai gelten jedoch in China als weitgehend sinisiert. Viele sprechen Chinesisch und haben auch einige der Sitten und Gebräuche der Han-Chinesen angenommen.

In den beiden Tagen des Treffens zeigte Yang drei seiner frühen Filme. Es waren Filme über die Wa, die Kucong und die Li von der Insel Hainan. Da die offiziell vorgesehen Dolmetscherin aus irgendwelchen Gründen ausfiel, hatte ich das Glück und die Ehre, die Filmkommentare in einer Zusammenfassung ins Deutsche zu übersetzen.
Im Anschluß an die Vorführungen machten wir dann gemeinsam mit Rolf Husmann Pläne, wie man die Anwesenheit Yangs in Deutschland nutzen könnte, um die Kontakte zu vertiefen und um zu überlegen, welche Projekte man gemeinsam anpacken sollte.

Es wurde die Idee geboren, die drei Chinesen zu einem Besuch nach Göttingen an das IWF einzuladen. Im Anschluß daran würde ich sie dann noch weiter nach Berlin begleiten, wo am Haus der Kulturen der Welt ebenfalls Vorführungen der Filme eingeplant waren.

In Göttingen wurde dann gemeinsam das Projekt “The Chinese Historical Ethnographic Film Series” aus der Taufe gehoben. 12 ethnographische Filme sollten vom Beijinger Institute of Nationality Studies für eine Reedierung und Veröffentlichung im Westen zur Verfügung gestellt werden. Es dauerte jedoch noch einmal 3 Jahre, bis nach mehrmaligen gegenseitigen Besuchen der entsprechenden Institutsvertreter 1992 ein Vertrag über die Übernahme dieser Filme und ihre Veröffentlichung in Europa abgeschlossen werden konnte.

Mittlerweile haben wir in Göttingen die ersten 4 Filme über die Naxi, Mosuo, Dulong und Oroqen fertiggestellt, so daß sie dieses Jahr noch in den IWF- Verleih gehen werden. Weitere Film-Veröffentlichungen werden in diesem Jahr folgen, so daß nächstes Jahr die Reihe komplett vorliegen wird. Ein großer Erfolg, geboren während mehrerer intensiver Gespräche in Freiburg im sonnigen Mai 1989!

Mittlerweile sind die Kontakte zwischen dem IWF und dem Institute of Nationality Studies so eng, daß beide Institute sich entschlossen haben, als zweiten Schritt in ihrer gemeinsamen Kooperation eine Internationale Tagung zum Thema ‘Visuelle Anthropologie’ im April 1995 in Beijing zu organisieren. Dies ist die erste internationale Veranstaltung dieser Art in China. Eine chinesische ‘Gesellschaft für Visuelle Anthropologie’ wird vom Institute of Nationality Studies gemeinsam mit anderen Instituten, die ebenfalls verstärkt im Filmbereich arbeiten möchten, gegründet werden. Natürlich wird Yang Guanghai, als Pionier des ethnographischen Films in China, der allein von den in den 50er und 60er Jahren produzierten 20 Filmen bei mehr als der Hälfte entweder als Kameramann oder Regisseur direkt beteiligt war, Ehrenvorsitzender werden.

Im Juli 1995 wird Yang Guanghai zu einem vierwöchigen Besuch am IWF in Göttingen erwartet. Wir werden unsere über die Jahre geführten Gespräche in Beijing und anderswo in China, dann hier weiterführen und vertiefen können. Es ist eine wirkliche Freundschaft enstanden, und ich betrachte es als große Ehre, daß mich Yang Guanghai zum Herausgeber seiner Biographie erkoren hat. Es werden hoffentlich noch viele gemeinsame interessante Arbeiten vor uns liegen, solange Yang die Kamera nicht aus der Hand legt ( er hat sie in den letzten Jahren nur gegen eine Videokamera ausgetauscht), und andere jüngere chinesische Ethnologen/-innen und Filmemacher/-innen in seine Fußstapfen treten.
Es wäre eine gute Gelegenheit und eine einmalige Chance, das, was in Freiburg 1989 begann und heute in China Früchte zeigt, auch für das südliche Nachbarland Chinas, für Vietnam auf den Weg zu bringen.