“So wie’s anfing, war’s ein Versehen…”
So wie’s anfing, war’s ein Versehen. Als mein Vater (Laurence Marshall) seine Arbeit bei Raytheon aufgab, wollte er - es ist eine unwahrscheinliche Geschichte - aber er wollte seinen Sohn kennenlernen. Während des 2.Weltkrieges war er sehr beschäftigt gewesen, jetzt wollte er seinen Sohn kennenlernen. Und ich wollte schon immer nach Afrika. Ich habe Bücher über die Erforschung Afrikas gelesen. Vater kaufte jede Menge Karten der Air-Force über Südafrika. Ein Jahr zuvor, 1949, war er in Kapstadt gewesen, um rauszukriegen, ob er der Hafenbehörde der Stadt ein Radarlotsensystem für den Hafen verkaufen könnte. Da hatte er einige Leute getroffen, darunter war ein Kerl namens Van Zyl, ein Arzt vom Tigerberg in Kapstadt. Der machte sich gerade auf die Suche nach der Verlorenen Stadt der Kalahari. Jedes leere Gebiet hat seine Verlorene Stadt, und das reicht als Grund, um aufzubrechen und eine Expedition durchzuführen. Vater fragte ihn, ob er sich seiner Expedition anschließen könnte, und Van Zyl stimmte zu. Wir rückten mit unseren Karten raus, und Vater konnte ihn davon überzeugen, daß wir unbedingt dorthin müßten, wo alle Straßen endeten, und das war in der Kalahari-Wüste, im Innern Südafrikas, das Kaoko Veld. Mein Vater glaubte nicht sonderlich an eine Verlorene Stadt, aber er gehörte zu den Menschen, die etwas erreichen wollten, während sie ihre Zeit verbrachten. Er war so ein Typ. Also ging er ins Peabody Museum von Harvard, wo wir mit J.O. Brew sprachen, dem damaligen Direktor, und Joe meinte: “Was ihr tun könnt, wenn ihr da runtergeht, ist, nach ‘wilden Buschmenschen’ Ausschau zu halten.” Es gab nämlich Gerüchte d Vermutungen, daß man in der Kalahari-Wüste noch immer Menschen finden könnte, die vom Sammeln und Jagen lebten. Sie in den weiten Ebenen Afrikas zu finden, wäre, als schaute man durch ein Fenster ins Pleistozän, einfach traumhaft. Wir gingen also mit dieser Expedition auf die Suche nach der Verlorenen Stadt und schauten uns nach ‘wilden Buschmenschen’ um. Wir kamen an einen Platz, der Kai Kai hieß, wo Van Zyl eines Morgens einen letzten energischen Versuch machte, die Verlorene Stadt zu finden. Wir blieben in Kai Kai und warteten, während der Doktor mit seinem Bruder, einem Senator, in die Wüste aufbrach. Sie kamen zurück und behaupteten, die Herero hätten die Stadt über Nacht verlegt. Die Verlorene Stadt fanden wir also nicht, aber Vater traf zwei Männer, /Kwi igumsi und //Ao n//oro. Er fragte sie, ob sie nächstes Jahr wieder hier sein würden, am gleichen Ort zur gleichen Zeit, wenn er mit seiner Familie zurückkäme, und ob sie uns mit ihren Familien zusammenbringen würden, die ihrer Auskunft nach noch ausschließlich vom Jagen und Sammeln lebten. Das waren die letzten tausend Menschen in Afrika, die so lebten: an einem Ort, der als Nyae Nyae bekannt werden sollte. Da fingen wir mit den Tshu-Khwe-Studien an. Vater teilte die verschiedenen Aufgaben einfach unter uns auf. Wir versuchten, einen Ethnographen aufzutreiben oder einen graduierten Studenten, der Lust hätte, das Alltagsleben von Wildbeutern in den afrikanischen Ebenen zu erforschen. Wir konnten keinen finden. Ist das nicht unglaublich? Wir fragten in Harvard, Yale, Princeton, Chicago und an ein paar anderen Stellen. Vater rief einfach an und sagte: “Wer will mit der Untersuchung beginnen?” Er versprach, sie über eine lange Zeit, für eine gründliche Langzeitstudie, zu finanzieren, da er darin eine einzigartige Gelegenheit sah, aber es kam keine Reaktion. Für ein paar Monate bekamen wir einen Archäologen (Robert Dyson). Zum Schluß meinte Vater: “Auch gut, dann machst du die Ethnographie, Lorna (Johns Mutter), und du, Elizabeth (Johns Schwester, die spätere Elizabeth Marshall Thomas), wirst ein Buch schreiben; du, John, machst die Filme.” Und er gab mir eine Kamera und sagte: “Dreh die Filme.”
So also fing es an, ich hatte keine Ahnung vom Filmen. Wir hatten Kodakfilmmaterial, 100 Fuß die Rolle und luden damit die kleinen Bell, und Howell-Handkameras. Jeder Filmspule war ein kleines Heft mit Anleitungen beigegeben, wie man einen Film macht. Darin stand: “Man fängt mit einer Totalen an, dann kommt eine halbnahe Einstellung und dann eine Großaufnahme”. Alles in diesen ersten Aufnahmen ist sehr steif und gestelzt. Das meiste wurde mit einem Stativ aufgenommen. Man glaubte damals, man müßte ein Stativ verwenden. Deshalb gibt es diese ruckartigen Sprünge.
Und dann war da noch die andere Sache, von der Vater sprach - wir hatten diese Liste von George Murdock, das ist eine Art Einkaufsliste für Anthropologen im Feld, da konnte man die gesammelten Daten direkt in die kulturübergreifenden Übersichtsformulare eintragen. Man hatte damit im II. Weltkrieg begonnen. Obenan auf der Liste stand Technologie, man sollte die Technologie darstellen, weshalb Vater meinte, dokumentiere die Technologie, und das war’s, was ich hauptsächlich machte.
So kam ich also zum Film. Der erste Film, den wir machten, das war ein Film, den meine Mutter 1951 montierte, er hieß BUSHMEN OF THE KALAHARI. Er zeigt das Volk der Tshu-Khwe, an die tausend, im Gebiet von Nyae Nyae, wo sie so lebten, wie sie mindestens die letzten 20000 Jahre über gelebt hatten. Von ihren direkten Vorfahren ist bekannt, daß sie vor ca. 1000 Jahren schon dort lebten. Die menschliche Besiedlung ist nachweislich 20 000 Jahre alt, und man nimmt an, daß es sich um Tshu-Khwe und ihre Vorfahren handelt, die allerdings in einer etwas anderen Umwelt gelebt haben dürften.
Damals war ich natürlich ein junger Kerl, und die Jagd zog mich in ihren Bann, also ging ich jagen. Ich bildete mir ein, das sei Technologie. Der erste richtige Film war dann jener übers Jagen. 1950-51 ging ich zweimal nach Afrika und noch einmal 1952, als wir THE HUNTERS drehten. Ich wußte nicht sehr viel über die Tshu-Khwe. Ich fing einfach an, Tshu-Khwe zu sprechen, und verbrachte die ganze - oder die meiste - Zeit auf der Jagd. Ich war achtzehn, neunzehn - die besten Jahre meines Lebens, glücklicher war ich nie wieder, keine Frage. Für einen jungen Burschen meines Alters war das eine ganz wunderbare Erfahrung, an einem Ort wie diesem mit Menschen wie den Tshu-Khwe, verdammt anständigen Menschen, mit denen man gerne zusammen ist.
Damals konnten wir die Muster nicht sehen. Man dreht; dann kommt man nach Hause und schaut sich die Sachen an. Aber manchmal blieben wir bis zu achtzehn Monate ununterbrochen unten, und da dreht man und dreht und dreht und schickt das Material nach Hause und erfährt dann erst, ob die Belichtung gestimmt hat, ob die Schärfe in Ordnung war. Das Fotolabor sollte uns eigentlich informieren, es war aber nicht sehr mitteilsam. Ich nahm z.B. jede Menge Jagdszenen auf, einige schöne Szenen, etwa wie Löwen von einem erlegten Beutetier vertrieben werden, mit einem kaputten Objektiv - es war eine Bolex -, so daß alles überbelichtet und unbrauchbar war. Und ich habe das nicht gewußt. Es gab kein Feedback. Man schickt das Material zurück und sieht es achtzehn Monate oder zwei Jahre später zum erstenmal und muß dann etwas daraus machen. Ich habe dann gleich gesehen, daß Vieles schief gelaufen war, daß ich Filme machte, die wie Diavorträge mit etwas Bewegung aussahen.
Die andere Sache, die mein Vater erwähnt hatte: Es muß wirklich sein. Mit anderen Worten, die Leute sollen nichts darstellen und vorführen, man darf ihnen nicht sagen, was sie tun und reden sollen.
(Carolyn Anderson, Thomas W. Benson: Setz die Kamera ab und greif zur Schaufel. Ein Interview mit John Marshall, in: ‘Jäger und Gejagte’ Trickster Verlag München, 1991)