Traditionen haben immer zwei Seiten. Das ist nicht neu, aber die Spannung dazwischen wird stärker. Traditionen binden Menschen zwar in ein gesichertes soziales, in der Vergangenheit verankertes Netz ein, aber dieses Netz kann auch beengend sein, für die einen mehr als für die andern. Die beschleunigten gesellschaftlichen Veränderungen in der zunehmend globalisierten Welt stellen bisher akzeptierte traditionelle Werte und soziale Strukturen immer mehr in Frage. Gleichzeitig bieten sich Vergleichsmöglichkeiten und Alternativen an. Die in der Tradition der europäischen Mentalitätsgeschichte verwurzelte Idee der Menschenrechte interpretiert traditionell legitimierte Abhängigkeitsverhältnisse als Systeme der Unterdrückung und fordert gleiche Rechte für Alle. Kulturell akzeptierte Ungleichheiten im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bereich gelten längst nicht mehr als unantastbar. An ihnen kann und darf gerüttelt werden. Prinzipiell und von außen betrachtet ist diese Entwicklung in Richtung individueller Freiheit positiv und unterstützungswürdig. Wer davon betroffen ist, sieht sich aber oft vor die schier unlösbare Aufgabe gestellt, mit Strukturen der eigenen beengenden Tradition brechen zu müssen, um ein gewisses Maß an persönlicher Freiheit und kultureller Gleichberechtigung zu gewinnen, und gleichzeitig zu verhindern, aus dem gesellschaftlichen Netz zu fallen. 

Dies gelingt nur in den seltensten Fällen. Oft tauschen die Betroffenen traditionelle Unterdrückung gegen gesellschaftliche Ächtung ein. Die Glücklicheren unter ihnen finden Unterstützung von Außen, andere werten im Nachhinein gesellschaftliche Akzeptanz höher als persönliche Freiheit und versuchen den Schritt zurück oder wagen ihn erst garnicht. Wie aktuell diese Problematik weltweit ist, lässt sich unter anderem an der Vielzahl der Dokumentarfilme ablesen, die in den letzten Jahren zu diesem Thema produziert wurden. Dass sich fast alle diese Produktionen mit Lebenssituationen einzelner Frauen befassen, ist ein Spiegel der globalen Machtverhältnisse. 

Die von uns ausgewählten Filme sind alle bedrückend, aber weit davon entfernt, nur anklagen zu wollen. Alle geben sie den betroffenen Frauen die Möglichkeit, ihre eigene Situation und ihre Reaktionen zu reflektieren. Dabei kommen diese manchmal zu Schlüssen, die für Außenstehende nicht leicht nachzuvollziehen sind.
Barbara Lüem