Israelische Dokumentarfilmerinnen und -filmer sind mittlerweile völlig vom israelischen Fernsehen abhängig, es sei denn, sie sind international etabliert wie Amos Gitai, Amit Goren oder Nurith Aviv, die durch europäische Koproduktionen ihre spezifische Dokumentarfilm-Ästhetik bewahren konnten. Dies mag zum einen damit zusammenhängen, daß unter der Regierung Nethanjahus die nationale Filmförderung seit 1996 kontinuierlich gekürzt wurde. Zum anderen bietet das israelische Fernsehen, im Lande oft als »Treibhaus linker Politik« betrachtet, den Filmemachern noch die Möglichkeit, die aktuellen Diskurse, die die israelische Gesellschaft in Atem halten, zu reflektieren. Dazu gehören gesellschaftspolitische Themen, die in Europa wenig Beachtung finden, da die europäischen Medien im Zusammenhang mit Israel ihren Blick hauptsächlich auf den israelisch-palästinensischen Konflikt oder die Biographien von Holocaust-Überlebenden richten.
Seit der Ermordung Rabins ist der israelisch-palästinensische Konflikt als zentrales Thema israelischer Dokumentarfilmer nicht unbedingt in den Hintergrund getreten, jedoch beschäftigt sie heute zusätzlich die Spaltung und der Zerfall der israelisch-jüdischen Gesellschaft. Das Land wurde von Zionisten gegründet, die überwiegend, im konventionellen Sinne, nicht religiös waren. Heute sehen sich die säkularen Israelis mit der zunehmenden Macht ultraorthodoxer Juden konfrontiert, die Israel in einen theokratischen Staat verwandeln wollen. Aber nicht nur die religiös-kulturelle Identität, sondern auch – dem nordamerikanischen Dokumentarfilmschaffen seit den 80er-Jahren nicht unähnlich – die ethnische Herkunft und die damit verbundenen Konflikte der Bürger eines multikulturellen Einwanderungslands wie Israel, sind in das Blickfeld der Filmemacher gerückt.
Unter den sephardisch-orientalischen Juden Israels (immerhin 50 Prozent der Bevölkerung) ist im Laufe der 90er Jahre ein ausgeprägtes ethnisches Bewußtsein entstanden; die Sephardim möchten sich von dem Assimilationsdruck an die vornehmlich aus Osteuropa eingewanderten Aschkenasim befreien. Sini Bar-Davids THE SOUTH – ALICE NEVER LIVED THERE (1998) erregte in der amerikanischen Presse Aufsehen, weil sie auf die von der amerikanisch-jüdischen Community bisher ignorierte Benachteiligung und Ausgrenzung der orientalischen Juden in Israel in ihrem autobiographischen Film aufmerksam macht. Bar-David hat, trotz des für Israel hochpolitischen Themas, keinen polarisierenden Film realisiert; sie nähert sich dem Thema auf eine filmsprachlich vielschichtige Weise, indem sie Dokumentation und Fiktion mit ihren persönlichen Reflexionen über die Diskriminierung der Sephardim verbindet. Andere Dokumentaristen haben ebenfalls die Identitätsfindung der Nachfahren sephardischer Einwanderer in ihren Filmen zum Thema gemacht: Iris Rubin zeigt in MACHBOIM (1998) auf eine schwungvoll-amüsante Weise die Emanzipationsbestrebungen dreier orientalisch-jüdischer Frauen, die in einer Theatergruppe das machistische Gebahren ihrer Ehemänner auf’s Korn nehmen. In JENNY & JENNY (1997) schildert Michal Aviad die Sorgen und Nöte zweier aus sephardischen Familien stammender Teenagerinnen, und in Amir Geras THE SUBMARINE CHILDREN (1998) treffen sich vier aus Marokko und Lybien stammende Mittdreißiger, ehemalige Schülerinnen und Schüler einer aschkenasischen Eliteschule, um ihre entwurzelte Kindheit und Jugend zu reflektieren.
119 BULLETS + THREE (1996) von Yeud Levanon war der erste international Aufsehen erregende Film über die Zerissenheit Israels nach der Ermordung Yitsak Rabins am 4. November 1995. Eineinhalb Jahre lang begleitete Levanon zusammen mit Amit Goren die religiösen Fanatiker unter den jüdischen Siedlern in den besetzten Gebieten der Westbank, welche bis heute öffentlich zu einer Auflehnung gegen die demokratischen Gesetze Israels und den Friedensprozeß aufrufen und schließlich die Ermordung Rabins auf diese Weise ideologisch vorbereiteten.
Amit Goren reflektiert in seinem neuen Film EIN ANDERES LAND (1998) den Einfluß dieser Spaltung der israelischen Gesellschaft auf sein persönliches Leben: »Rabins Tod, so scheint mir, war kein isolierter Einzelfall, sondern der Beginn eines neuen Abschnitts, einer grausamen zerstörerischen Zeit in der Geschichte Israels. (…) Dies ist für mich ein Film über (mein) ‘Heim’, das in Israel niemals nur privat verstanden werden kann. (…) Ich fühlte mich, als wäre ich in meiner Heimatstadt Tel Aviv über Nacht zum Exilanten geworden.« Autobiographisches Filmen als Methode dem Publikum diffizile politische Themen näherzubringen, wendet nicht nur Amit Goren, sondern auch Amos Gitai in seinem Film THE ARENA OF MURDER (1996) an. Dan Katzir läßt uns in OUT FOR LOVE…BE BACK SHORTLY (1997) auch an seinem persönlichen Leben teilhaben, ohne daß dies wie eine distanzlose Nabelschau erscheint. Kein anderer israelischer Dokumentarfilm der letzten Jahre hat das Dilemma vieler junger Menschen in Israel so treffend auf den Punkt gebracht – ihre Suche nach Liebe und Intimität inmitten des täglichen Terrors und Hasses.
Nurith Aviv hat sich bereits in ihrem ersten Dokumentarfilm KAFR QUR’A (1989) mit der Situation der palästinensischen Araber mit israelischem Paß auseinandergesetzt. In ihrem einfühlsamen letzten Film MAKOM-AVODA (1998) richtet sie ihren Blick auf eine andere palästinensische Dorfgemeinschaft auf der besetzten Westbank. Die Einwohner lebten vor der Intifada in enger Nachbarschaft mit den jüdischen Genossenschaftlern eines Moshav auf der anderen Seite der »grünen Grenze« und verdienten ihren Lebensunterhalt als Landarbeiter im Moshav. Seit dem Beginn der Intifada ist es den Palästinensern untersagt, im diesem Moshav zu arbeiten. Aviv schildert in ihrem Film nicht nur die desolate Lage der nun meist arbeitslosen Araber, sondern auch die schizophrene Situation von ehemals befreundeten Familien dies- und jenseits der Grenze. Viele möchten den persönlichen Kontakt wieder aufnehmen, aber die israelische Verwaltung und die Feindbilder, die in der palästinensischen sowie in der jüdischen Community herrschen, verbieten es ihnen.
Handelt der Film Nurith Avivs von den Palästinensern in den vom israelischen Militär besetzten Gebieten, befaßten sich in den letzten Jahren einige Dokumentarfilme mit der widersprüchlichen Situation der palästinensisch-arabischen Minderheit in Israel, immerhin eine Bevölkerungsgruppe von ca. 900.000 Muslimen, Christen und Drusen. Unter diesen Bürgern des Landes befinden sich ca. 200.000 sogenannte Binnenflüchtlinge, deren Städte und Dörfer in dem Krieg 1948 zerstört wurden. Avner Faingulerent und Maya Barr beobachten in THE FIRST WILL BE THE LAST (1997) eine Gemeinschaft von vertriebenen christlichen Maroniten, die in ihren zerstörten Heimatdörfern die früheren Kirchen in eine Art moderne Wallfahrtsstätte verwandelt haben. Gemeinsame Gottesdienste in den verlassenen Ruinen sollen die israelische Regierung an das Versprechen erinnern, sie wieder in die Dörfer zurückkehren zu lassen und ihnen ihr Land zurückzugeben. Auch der Dokumentarfilm AL KARAMAH – HUMAN DIGNITY (1997) der Anthropologen Moslih Kanaaneh und Frode Storass behandelt u. a. die Bodenrechtskonflikte zwischen der arabischen Minderheit und der israelischen Regierung – immer wieder kommt es in palästinensischen Dörfern zu Enteignungen des Landbesitzes arabischer Bauern, der dann jüdischen Siedlern zur Verfügung gestellt wird.
Jedoch hat unter den palästinensischen Arabern in Israel auch eine »Israelisierung« ihrer eigenen Kultur stattgefunden. Mit diesem Vorwurf werden sie oft von Palästinensern aus der Westbank und dem Gazastreifen konfrontiert. Wenn sie in Israel auch diskriminiert und rechtlich von dem israelischen Staat nicht gleich behandelt werden, so sind sie als Bürger des Landes doch zu einem gewissen Wohlstand und Selbstbewußtsein gekommen und möchten darauf nicht mehr verzichten. Von diesem Identitätskonflikt spricht Lina Chaplins NOT A BEGINNING NOR AN END (1997) in einem Portrait der Familie Mohamed Bakris, des wichtigsten arabischen Schauspielers im israelischen Film. Bakris Sohn sagt offen, daß er es sich persönlich nicht vorstellen könne, ein neues Palästina in den Autonomiegebieten mitaufzubauen, aber sich auch nicht wie ein Israeli fühle. Er zieht es vor, nach England auszuwandern, um dieser dauerhaften Konfrontation mit seiner gespaltenen nationalen Identität auszuweichen. Auch David Benchetrit portraitiert in SAMIR (1999) und Dalia Karpel in EMILE HABIBI: »I STAYED IN HAIFA« (1997) palästinensische Persönlichkeiten mit israelischem Paß, die, in diesem Falle als Schriftsteller, über die Grenzen des vorderen Orients hinaus, zu Ruhm gekommen sind.
Israel ist immer noch ein Einwanderungsland. Als 1989-90 die kommunistischen Staaten in Osteuropa kollabierten, begannen Juden von dort wieder in großer Zahl nach Israel zu immigrieren. Das ‘Ministerium für Einwanderung und Assimilation’ richtete, wie in der Gründerzeit des Staates Israel, wieder Auffanglager, sogenannte ma’abara, ein. Dem Leben in diesen provisorischen Siedlungen hat sich Amit Goren in GOOD OR BAD – BLACK AND WHITE (Kurz vor Kanaan, 1995) angenommen. Er erinnert sich an die Situation seines aus Ägypten stammenden Vaters: »Für viele, die – wie er – ihre komfortable Mittelklasse-Existenz aufgegeben hatten, um an der Verwirklichung ihrer Träume vom Aufbau Israels mitzuarbeiten, bedeutete das Leben in den ma’abaras ein böses Erwachen. Die Assimilation wurde zur Illusion: Sie hausten auf einem kahlen Hügel, umgeben von Nachbarn, die alle möglichen Sprachen sprachen, außer der, die sie selbst verstehen konnten. Das war Israel, und das ist Israel heute noch. Kein Wunder also, daß ein Einwanderungsland mit Staatsbürgern aus 120 Ecken der Welt kein wichtigeres Ziel kennt als die Assimilation.«
Doch heute fehlt den Immigranten, im Gegensatz zu den 40/50er Jahren, der zionistisch motivierte Assimilationswille. Die ukrainischen und russischen Einwanderer im heutigen Israel pflegen eine ausgeprägt antireligiös-russische Gegenkultur mit einer sehr gut organisierten Infrastruktur und sogar einer eigenen politischen Partei. Auch in Ruth Walks PINKAS DREAM (1998) wird deutlich, daß die von den israelischen Einwanderungsbehörden geförderten Assimilationshilfen (kostenlose Wohnungen, Sozialhilfe, Konvertierungsprogramme bei Einwanderern, die keine jüdische Mutter nachweisen können) nicht mehr weit reichen. Dem Protagonisten des Films, einem aus dem Irak stammenden jüdischen Kurden, gelingt es zwar rund 50 Familienmitglieder aus Kurdistan nach Israel zu holen, aber nach einem Jahr muß er enttäuscht feststellen, daß die Neueinwanderer nur aus wirtschaftlichen, aber nicht aus ideellen Gründen ins Land gekommen waren.
Sowohl Amit Goren in KURZ VOR KANAAN als auch Francois Margolin in seiner israelisch-französischen Koproduktion DIX ANS APRÈS (1996) schildern die Schwierigkeiten der schwarzen Juden in Israel, den aus Äthiopien vom israelischen Militär mit der ‘Operation Moses’ per Luftbrücke ausgeflogenen Falaschen. Heute stellen die äthiopischen Juden die am stärksten marginalisierte Einwanderungsgruppe in Israel. Glaubte die israelische Regierung die Falaschen damals »gerettet« zu haben, fragen sich die heute nach fast 15 Jahren immer noch in den Auffanglagern Verbliebenen, wie es ihnen gelingen könne, »in Israel weiß zu werden.« Die Falaschen werden auch heute noch von den orthodoxen Rabbinern nicht als »richtige Juden« anerkannt, und ihnen wird es mit ihren afrikanischen kulturellen Wurzeln kaum ermöglicht, in der israelischen Gesellschaft einen Platz zu finden.
(Andrea Wenzek)