Die ‚arabische Welt’ verändert sich mit atemberaubender Geschwindigkeit – zwei Diktatoren wurden bereits davongejagt, ein Ende ist nicht abzusehen. Kifaya! („Es ist genug!“) lautet das pragmatische Losungswort der lokal so unterschiedlichen Revolten. Es artikuliert zugleich deren gemeinsamen Nenner. Wachsende Teile der Bevölkerung haben genug von ihren Diktatoren und sich bereichernden Eliten; sie begehren auf gegen Unterdrückung und Gewalt, gegen Korruption, Armut und Ausbeutung. Wohin die Entwicklung in den verschiedenen Ländern führen wird, ist momentan nicht abzusehen. Eines aber scheint klar: Bei aller Repression, die die Protestierenden erfahren, werden das kollektive Aufbegehren und die Formierung einer kritischen Öffentlichkeit nicht einfach rückgängig zu machen sein.

Im Westen, wo man sich mit den Diktatoren umso bedenkenloser arrangiert hatte, je uneingeschränkter sie der ‚internationalen Gemeinschaft‘ den Zugang zu den Reichtümern ihres Landes eröffneten, reibt man sich unterdessen erstaunt die Augen. Die Verwunderung ist groß angesichts der unerwarteten Bewegung in der ‚arabischen Welt‘, vor allem aber angesichts der großen Zahl der zivilgesellschaftlichen Akteure und all der jungen, offenbar wenig ideologisierten Menschen, die für Veränderung, Demokratie und bessere Zukunftschancen ihr Leben riskieren. Die überwiegend von Jugendlichen getragene Protestbewegung stellt nicht nur die althergebrachten Vorstellungen vom ‚Orient‘ als einem vormodernen, statischen, irrationalen und dem Despotismus geweihten Kulturraum in Frage, sondern bringt auch das seit dem 11. September 2001 so sorgfältig gepflegte Bild der ‚islamischen Welt‘ ins Wanken, das ganze Weltregionen auf die Alternative zwischen Diktatur und Fundamentalismus festlegte.

Grund genug also, die Veränderungen in den arabischen Ländern zum Ausgangspunkt unseres diesjährigen Schwerpunkts zu machen, dabei aber auch nach ihren historischen Bedingungen zu fragen.

Natürlich lässt sich die Filmkultur in der ‚arabischen Welt’ nicht als homogene Einheit betrachten. Bei aller Diversität kann man aber doch konstatieren, dass die Region geprägt ist von einer – nicht zuletzt auch kolonial bedingten – Geschichte der Teilungen, von ideologischen Spaltungen, politischen Spannungen und militärischen Auseinandersetzungen, die, von der kommerziellen Massenproduktion in Ägypten abgesehen, eine Ausbildung stabiler Produktionsstrukturen und eine Kontinuität filmischer Produktion kaum zuließen. Politische Zensur, religiös bedingte Restriktionen sowie das Fehlen einer ausreichenden Filmförderung kommen als zusätzliche Erschwernisse hinzu. Um wenigstens einen Bruchteil ihrer Träume realisieren zu können, waren und sind künstlerisch ambitionierte und politisch engagierte Regisseure in der Regel auf Koproduktionen mit europäischen Produktionsfirmen oder Fernsehanstalten und auf die finanzielle Förderung durch ausländische Geldgeber angewiesen.

Dennoch sind in Ländern wie Algerien, Tunesien, Ägypten, Syrien oder Libanon seit dem Ende der Kolonialherrschaft eine Vielzahl ausdrucksstarker Filme entstanden, die die politischen und sozialen Zustände ihrer Länder reflektieren und ihre Vielschichtigkeit zeigen. Wir zeigen zwei Produktionen, die ein besonders helles Licht auf die Vorbedingungen der aktuellen Ereignisse werfen. In einem ungewöhnlichen Erzählstil zeichnet der algerische Altmeister Merzak Allouache in OMAR GATLATO (1976) das Bild perspektivloser städtischer Jugendlicher, wie sie heute auf die Straße gehen oder die Flucht nach Europa antreten. OMAR GATLATO ist auch einer der ersten arabischen Spielfilme, der die wichtige Rolle der Musik für Jugendliche beschreibt. In Sherif Arafas ägyptischem Kultfilm KEBAB UND TERROR von 1992 wird ein frustrierter Bürger in der Mugamma, dem als Sinnbild des korrupten und undurchsichtigen Staatsapparats an der Stirnseite des Tahrir-Platzes stehenden Verwaltungszentrum des Landes, durch ein Versehen zum Staatsfeind. Ohne es zu wollen, nimmt Ahmed die ganze Mugamma zur Geisel. Flankiert von einer rebellischen Beamtin und einer vorgeladenen Prostituierten sieht er sich mit der aufmarschierenden Staatsmacht konfrontiert.

Während Kontinuitäten in der sozialen Realität nicht zu übersehen sind, sehen sich aktuelle Filmemacher aber auch in vielerlei Hinsicht mit veränderten Realitäten konfrontiert. Mit den modernen Kommunikationstechnologin sind vor allem die jungen Leute in der arabischen Welt in globale Diskurse eingebunden, die alle Grenzen von Raum, Zeit und Ort überschreiten. Soziale Netzwerke, Blogs und die mobile Kommunikation, haben jenseits staatlicher Zensur die Kommunikations- und Organisationsplattformen für die Kanalisation des Protests geschaffen und den Revolten enorme Schubkraft verliehen. Während in OMAR GATLATO die jungen Leute in ihrer Freizeit lokale Musiktraditionen pflegten, produziert die Jugend Ägyptens in MICROPHONE (2010) HipHop, Metal, Rock und Pop. In gesellschaftlichen Nischen träumt sie von Freiheit und Selbstverwirklichung. MICROPHONE wurde im Dezember letzten Jahres (kurz vor Beginn der Revolten) auf Filmfestivals in Kairo und Tunis vom Publikum gefeiert und bekam den Hauptpreis für den besten arabischen Film. Mit der audio-visuellen Performance SONIC TRACES: FROM THE ARAB WORLD präsentiert uns die Gruppe norient Sound- und Videokunst zum Spannungsfeld von Musik, Lärm und Protest. Thomas Burkhalter, Musikethnologe und Journalist und seit Jahren in arabischen Ländern unterwegs, wird durch die Performance führen.

Aus dem Libanon – einem Land, in dem der Bürgerkrieg und die politischen Umstände paradoxerweise ein einzigartiges Klima der kulturellen Produktivität haben entstehen lassen – zeigen wir den Spielfilm CHAQUE JOUR EST UNE FÊTE, in der Frauen im Zentrum der Geschichte stehen, während Männer so gut wie abwesend sind. Die Regisseurin Dima El-Horr erzählt mit einer ebenso klaren wie symbolischen Bildsprache von der Reise dreier einander unbekannter Frauen, die im selben Bus zum selben Ziel unterwegs sind: einem Männergefängnis mitten in der Hermel-Wüste. Wie der Libanon darum ringt, seine Freiheit zurückzugewinnen, wird die Reise dieser drei Frauen zu einer Suche nach ihrer eigenen Unabhängigkeit.

Filme, die nach den Revolten in Tunesien und Ägypten gemacht wurden, sind heiße Ware, rar und oft noch nicht fertig. Unter dem Titel „Tage des Zorns. Mediale Reflexion des arabischen Frühlings“ versammeln wir eine Auswahl topaktueller Produktionen aus Tunesien und Ägypten, die im Rahmen eines Panels mit den verantwortlichen Filmemachern und Medienkünstlern diskutiert werden. In ihrem work in progress TUNISIE ANNÉE ZÉRO dokumentiert die tunesische Filmemacherin Olfa Chakroun das Leben in einem Vorort von Tunis nach der Revolution. Und aus der German University in Cairo werden VIDEO-ARBEITEN VON STUDIERENDEN gezeigt und diskutiert.

An dem von Irit Neidhardt (mec film) und Daniel Fetzner (German University in Cairo) moderierten Panel nehmen außer den AutorInnen Fitouri Belhiba teil, ein tunesischer Filmemacher, der seit Jahrzehnten im französischen Exil lebt, jedoch weiterhin Filme in Tunesien produziert.

Last but not least haben wir in Kooperation mit dem Literaturbüro und der Buchhandlung jos fritz den Schriftsteller Chalid al-Chamissi aus Kairo zur Lesung aus seinem aktuell vieldiskutierten Buch „IM TAXIUNTERWEGS IN KAIRO“ eingeladen, einem Gesellschaftspanorama aus der Ära Mubarak.

Neriman Bayram