Wo zeitgenössische Dokumentarfilme sich oft bemühen, mit vielschichtigen Stilmitteln eine ‘große Oper’ aufzutischen, ist in den letzten Jahren in der Ethnografie und ihren assoziierten Medien eine ganz andere Richtung zu beobachten. Es handelt sich um eine rigoros induktive Methode, die mit forciert eingesetzten Mitteln den Forscher/Filmemacher als auch Rezipienten quasi an den Ort des Geschehens versetzt, so dass er mit eigenen und allen Sinnen auf Entdeckungsreise geht.

Sensory ethnography setzt voraus, dass die Sinne nicht unabhängig voneinander behandelt werden können. Sie wendet innovative multimediale Methoden an, die sowohl über das Hören und Sehen als auch den geschriebenen Diskurs hinausgehen und sich einer künstlerischen Praxis annähern. Sie versucht, Disziplingrenzen und Aufmerksamkeitshierarchien aufzuheben wie z.B. die Dominanz des Visuellen oder die humanozentrische Perspektive. Sie sucht neue Wege in der wissenschaftlichen Praxis und Veröffentlichung und der Einbindung von Beteiligten und Rezipienten. Die teilnehmende Beobachtung wird erweitert durch Mithandeln. ‘Interviews’ finden nicht nur auf sprachlicher Ebene statt. Es wird davon ausgegangen, dass Wissen mit dem ganzen Körper produziert und rezipiert wird.

Mit diesen Merkmalen fasst die Theoretikerin Sarah Pink („Doing Sensory Ethnography“, 2009) die neue ethnografische Richtung zusammen, deren bisher bekannteste Vertreter auf audiovisuellem Gebiet von der Harvard University in Boston kommen. Ilisa Barbash und Lucien Castaing-Taylor gründen 2006 das Sensory Ethnography Lab (SEL), welches sie mit der Arbeit an einem langjährigen Projekt entwickeln, aus welchem 2009 der 35mm-Film SWEETGRASS entsteht. Der „Schafwestern“ macht Furore und geht als solcher in die Filmgeschichte ein. Bis heute folgen einige vielbeachtete Filme, zuletzt MANAKAMANA (2012, Stephanie Spray/Pacho Vélez), LEVIATHAN (2013, L. Castaing-Taylor/Verena Paravel) und THE IRON MINISTRY (2014, J.P. Sniadecki). Das innovative Lab bildet eine Kooperation zwischen der Anthropologie und den Visual and Environmental Studies.

Robert Gardner gründete 1957 das Film Study Center und leitete es 40 Jahre lang. Diesem ist das SEL angegliedert, welches heute Lucien Castaing-Taylor leitet. Gardners Filme stellen einen starken Bezugspunkt dar. So fügt es sich bestens, dass dank unserer Jubiläumsreihe sein FOREST OF BLISS in direktem Kontext mit den neuen Filmen gesehen werden kann. Außerdem trägt eine starke Rezeption von Avantgardefilmen am SEL dazu bei, über den Tellerrand des ‚Dokumentarischen‘ hinaus zu schauen.

Charakteristisch nicht nur für das Projekt Sweetgrass ist, dass auch andere Präsentationsformen hinzukommen wie Fotoausstellungen und Installationen (u.a. „Sheeple“). SEL Werke sind folgerichtig in Galerien und Museen präsent. Der SEL Studiomanager Ernst Karel veröffentlicht eigenständige Audioarbeiten (u.a. „Swiss Mountain Transport Systems“, 2013) und gestaltet wesentlich den Soundtrack der meisten Filmproduktionen des Lab mit. Dass die Filme mit einer starken Tonebene beginnen, ist schon zum SEL-Markenzeichen geworden.

Manchmal mit ähnlichen Verfahren, doch jeweils projektgebunden definiert und häufig in Zusammenarbeit, vertiefen sich die FilmemacherInnen in je eigene Sujets. Castaing-Taylor hat mit seinem neuesten LEVIATHAN wiederum das Verhältnis zwischen Mensch und Tier bearbeitet. Stephanie Spray, deren frühen KALE AND KALE wir zeigen, bleibt einer bestimmten Region in Nepal treu und erforscht im engen Kontakt familiäre Beziehungen und Kulturformen. Wie die anderen Genannten hat unser Gast J.P. Sniadecki den Abschluss als Anthropologe gemacht und viele Jahre in China gelebt und gearbeitet. Viel Beachtung fand er mit PEOPLE‘S PARK (2012), der den Betrachter mit einer suggestiven kontinuierlichen Kamerafahrt durch einen belebten Freizeitpark schweben läßt. Der Zuschauer wird in die fremde Kultur hineingezogen, zugleich zurückgeworfen auf sich selbst im Gestus des Beobachtens und Beobachtetwerdens.

In Kooperation mit Carl-Schurz-Haus/Deutsch-Amerikanisches Institut (DAI) Freiburg e.V.

Literaturhinweise
Lucien Taylor: Introduction. In: David MacDougall, Transcultural Cinema. 1998.
Scott MacDonald: American Ethnographic Film and Personal Documentary. The Cambridge Turn. University of California Press 2013.
Adam Nayman: Sense and Sensibility. Harvard’s Sensory Ethnography Lab. Povmagazine, issue 91, fall 2013.
Simon Rothöhler: Zum Sensory Ethnography Lab der Harvard University. In: Merkur 8, August 2013.