Fotoausstellung
18. Mai - 9. Juni 1995 Universitätsbibliothek Freiburg
von Armgard Goo
“Le choix parmi les photos de Pierre Verger: un peu de sable, de terre, de chair et d’éther par delà le temps et les territoires.” So bezeichnen Jean L. Pevin (Revue Noire, Paris) und Pascal M. Saint Léon (Musée de l’Elysée, Lausanne) die Fotos, die ihnen 1991 in Salvador de Bahia der fast 90-jährige Pierre Verger übergab. Es ist eine Auwahl eines Bestands von mehr als 65000 s/w-Negativen, aufgenommen in einem Zeitraum von mehr als 50 Jahren. Eine Auswahl von 200 Aufnahmen wurde in Frankreich und der Schweiz gezeigt.
Als Sonderausstellung zum ‘6. Film Forum Freiburg’ zeigt das Museum für Völkerkunde Freiburg rund vierzig seiner Fotografien in der Universitätsbibliothek in Freiburg.
Pierre Verger ist in Deutschland und auch in Frankreich nur wenigen bekannt, obwohl seine Arbeiten in mehreren Bildbänden publiziert wurden, die sein Freund und Förderer Paul Hartmann meistens herausgegeben hat. Geboren 1902 in einem großbürgerlichen Pariser Milieu, führte Verger bis zu seinem 30sten Lebensjahr , wie er selbst sagt, das dandyhafte Leben eines “jeune riche” - bis 1932 der Tod seiner Mutter eine Wende in seinem Leben auslöste: Er verläßt Paris und beginnt zu reisen; dabei hält er seine Eindrücke und die Menschen, denen er begegnet, auf Fotografien fest. In den nächsten drei Jahrzehnten ist die Fotografie und das Reisen sein Lebensinhalt: “Ne rien posséder, voyager, photographier.” Er “durchkämmt” die Welt kreuz und quer, allein, nur spontanen Impulsen folgend. Reisen bedeutete in der Prä-Jet-Epoche lange unterwegs zu sein, sich mit Schiff, Bus, Zug, Auto, Kamel, Fahrrad oder zu Fuß fortzubewegen. Ein mühsames Unterfangen, doch war die Aufenthaltsdauer an den angestrebten oder zufällig ausgesuchten Orten dann auch proportional zu der Zeit, die es brauchte, diese Stellen zu erreichen.
Manchmal tauscht Verger seine Aufnahmen gegen Freifahrten ein, entweder bei Vertretern der französischen Regierung oder bei Transportunternehmern. So reist er 1938 in Vietnam mit Chauffeur in den Limousinen der Kolonialverwaltung, übernachtet aber, da er wenig Geld hat, in billigen Absteigen. Seine Bilder aus dieser Zeit zeigen sowohl die Reichen und Regierenden, als auch die arme Bevölkerung.
Ständiger Ortswechsel bestimmt sein Leben. Er kommt nach Polynesien, Nord-und Südamerika, Rußland, Korea, China, Japan, Indochina, Westindien, auf die Philippinen und zwischendurch reist er kreuz und quer durch Europa.
Tagesereignisse und “historische” Begebenheiten interessieren ihn jedoch nicht, und Zeit seines Lebens versteht er sich nicht als dokumentierender Fotojournalist oder Berichterstatter. Bindungen geht er kaum ein, er sucht die Nähe zu seinen Sujets:” Mieux découvrir pour chaque fois me sentir plus proche et mieux aimer des gens qui, a priori, ne me ressemblaient en rien.”
Gelegentlich kommt er zurück nach Paris, um seine Fotos an Zeitungen zu verkaufen. Bei einem dieser Aufenthalte lernt er das Team des ‘Musée d’Ethnographie’ (heute Musée de l’Homme) kennen: Georges-Henri Rivère, Marcel Griaule, Germaine Dieterlen u.a., Vergers Interesse an der Ethnologie wird durch sie geweckt und läßt ihn Zeit seines Lebens nicht mehr los. Auch begegnet er Jean-Louis Barrault und Jaques Prévert, die ihn in den Kreis des sogenannten “bal nègre”, die Gruppe der in Paris arbeitenden “colorés d’outremer”, einführen.
1934 gründet er zusammen mit Kollegen die unabhängige Fotoagentur ‘Alliance Photo’, die bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs sein Einkommen sichert und seine Reisen ermöglicht. Verger arbeitet fast immer freischaffend, feste Kontrakte oder Exklusivverträge schließt er nur in Zeiten äußerster Geldnot ab. Es ist ihm ein Greuel, sich durch Vorgaben und feste Verpflichtungen einschränken zu müssen.
Von 1939 - 1948 reist er in der westlichen Hemisphäre mit einer knapp einjährigen Unterbrechung: 1940 hatte er sich freiwillig für den Militärdienst im Senegal gemeldet und wurde der fotografischen Sektion der Kolonialregierung in Dakar zugeteilt.
Nach seiner Rückkehr nach Lateinamerika bezieht er das erste Mal seit langem einen festen Wohnsitz. Er beschäftigt sich jetzt mit den afrikanischen Einflüssen in Brasilien. Sein Interesse an diesem Thema wird von Roger Bastide (Leiter des ‘Institut Français d’Afrique Noire’), gefördert. Von Bahia aus bereist Verger Süd- und Mittelamerika; er fotografiert Festivals und Zeremonien wie Samba, Codomblé und Lapoeira, sowie Volkskunst, Architektur und vor allem den Alltag der von den ibero-amerikanischen Schichten diskriminierten Schwarzen. Auf dem ‘bal nègre’ in Paris hatte er eine Ahnung von dieser Welt bekommen. Jetzt lernt er in Brasilien Voodoo und Candomblé kennen und ist fasziniert von der Lebendigkeit und schillernden Lebenskraft dieser Kulte, mit denen er sich nun langsam vertraut macht. Sehr wichtig ist für ihn die Begegnung mit zwei Voodoo-Priesterinnen: Es geschieht etwas, das er für sich bisher ablehnte, - er partizipiert und wird schließlich initiiert.
In Holländisch Guyana lernt er die Djukas, Nachkommen geflohener Ashanti-Sklaven, kennen, und stellt fest, daß ihre Dorfanlagen denen der Ashanti-Siedlungen der Goldküste ähneln, und macht Aufnahmen während einer Kromati-Zeremonie. Er beschließt, die Ursprünge dieser synkretistischen Kulte in Afrika selbst zu studieren, und erhält ein Stipendium der ‘Ecole Française d’Afrique’. Vor seiner Reise erteilt ihm die Candomblé-Priesterin Dona Senhora Aufträge für sein Vorhaben, nachdem sie ihn in den Xango-Kult aufgenommen hatte.
Er hält sich danach wiederholt in Dahomey auf und wird dort in verschiedene Gemeinschaften initiiert. Dort stellte er fest, daß die Namen der in Sao Luis do Maranhao benutzten Voodoo-Gottheiten die Mitglieder, der als Sklaven nach Brasilien verschleppten königlichen Familie von Abomey bezeichnen. In Keton, von wo die Condomblé-Kulte Bahias ihren Ausgang nahmen, untersucht Verger deren Ursprungsformen.
Er erhält den Titel und Rang eines Babalawo, “Vater des Geheimnisses”, und hat damit Zugang zu dem oral tradierten Wissen der Yoruba. Wegen dieser Position spielt er später in Bahia eine wichtige Rolle bei der Ausführung der Voodoo-Kulte, als Oju-Oba, dem “Auge des Königs”.
Er publiziert mehrere Arbeiten, u.a. über den Orisha und Voodoo-Kult. Obwohl er der Ethnologie als wissenschaftlicher Disziplin immer sehr kritisch gegenüber steht, verfaßt er mit 64 Jahren (1966) seine Dissertation über den Sklavenhandel zwischen dem Golf von Guinea und Bahia de Todos Santas. Er wird Mitglied und dann Leiter des CNRS. Im Alter von 75 Jahren geht er als Gastprofessor an die Universität Ifé (Nigeria). Seit 1979 lebt er wieder in Bahia, wo er eine Professur an der Universität inne hat.
Im letzten Drittel seines Lebens distanzierte sich Verger zunehmend von der Fotografie und gibt sie schließlich ganz auf.
Die Rolle des Mittlers zwischen Afrika und der afro-amerikanischen Diaspora nimmt Verger sehr ernst. Neben seinen interkulturellen wissenschaftlichen Untersuchungen ist er auch Überbringer von Kenntnissen, Botschaften und symbolischen Geschenken und versucht, mit allen ihm als Einzelperson zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, die gewaltsam abgerissenen Beziehungen zwischen den beiden Kontinenten wieder herzustellen. Seinen fotografischen Arbeiten kommt dabei eine Schlüsselposition zu. Er sagt darüber:
“L’image pure provoque un émoi plus spontané que celui résultant d’un exposé soigneusement structuré s’adressant à la compréhension. Le message qu’elle transmet est directement ressenti et ne fait pas intervenir de ‘savantes’ explications. Nous avons (…) défini les vertus de la photographie comme éléments de fixation et de résurrection de la mémoire de moments cruciaux précis qui, sans ce témoignage, se seraient enfuis, chassés par le flot mouvant des impressions successives qui nous assaillent sans trêve au cours de notre existence. Nous étions d’accord pour définir la photographie dans les termes suivants: La photographie permet de voir ce qu’on n’a pas le temps de voir, car elle fixe. De plus, elle mémorise, elle est mémoire.”
Die Fotografien von Pierre Verger sind vom 18. Mai - 9. Juni 1995 in der Universitätsbibliothek Freiburg ausgestellt.