Individuen, Personen, Subjekte – Themen von Pierre Baudry 

Die Arbeiten aus den ‘Ateliers Varan’ machen deutlich, daß das Filmen von Portraits heutzutage ein privilegiertes Genre in der Ausbildung von Dokumentaristen ist. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: 

Nach einem unausgesprochenen Gesetz wird in den Kursen der ‘Ateliers Varan’ mehr oder weniger intuitiv, dem deskriptiven Element höchster Stellenwert eingeräumt: Die Drehzeiten dauern ungefähr einen Monat und wenn man »irgendjemanden« filmt, ist es keineswegs sicher, daß in einer so kurzen Zeit ein geplantes oder spontanes Ereignis die Gelegenheit für eine Erzählchronik bietet. Beschreiben geht über Erzählen: Dem Filmemacher kommt es darauf an, eine Person »einzufangen«, in den unterschiedlichsten alltäglichen Erscheinungsformen. 

Die Beschreibung einer Person garantiert dem Filmemacher, auch wenn er sich nicht ganz sicher ist, zumindest eine empirische Einheit in Bezug auf das »Individuum«. Dieses »Individuum«, das selbst etwas Geheimnisvolles hat, wenn es den Abwasch macht oder über Gott und die Welt plaudert. In der Beschreibung verdichten und verfeinern sich – mit mehr oder weniger dramaturgischer Eleganz – die verschiedenen Erscheinungsformen dieses Individuums. Der »Präsenzeffekt« schafft so etwas wie eine Einheit. 

Wir wissen, daß die Atome spaltbar sind. Genauso kann ein Individuum voller Widersprüche stecken und bleibt doch ein einziger Bezugspunkt. 

Bei den Kursen in den ‘Ateliers Varan’ ist das Filmthema mehr oder weniger frei wählbar. Die Lehrer ermutigen die Studenten ab der Experimentierphase, sich selbst ihr Thema zu suchen. Dessen Ausarbeitung, die Dreharbeiten und das Schneiden sind dann die eigentlichen Kursinhalte. 

Gleichzeitig führen diese Übungen die Kursteilnehmer dazu, »Präsenz« als Ziel anzustreben. Sie entdecken das, was man gemeinhin cinégénie nennt: einige Personen sind präsenter als andere. Im Sinne dieser cinégénie beschliessen sie oft, jemanden auf der Leinwand zu portraitieren. (…) 

Wenn man jemandem sagt »Ich filme dich«, heißt das, daß man mit dem Drehen etwas Bestehendes festhält. Ein fürchterlich narzißtisches Abenteuer. Es ist nachvollziehbar, daß sich einige diesem ängstlich entziehen; es ist ein fast unmögliches Unterfangen, wenn sich der Filmemacher und die Figur nicht auf eine Verbindlichkeit in einem abstrakten Drittel verständigen können. Nicht »Ich filme dich«, sondern »ich filme deinen Beruf« z.B., jedenfalls etwas, was einen Puffer zwischen die zu filmende Person und den Abgrund ihres Bildes schiebt. Denn es ist tatsächlich so, daß sich der Dokumentarist weit mehr engagiert als der Spielfilmautor und dieses abstrakte Drittel (das Thema) gibt ihm eine Art Köder in die Hand oder die Gelegenheit eine Maske zu tragen, die, ob wahr oder erfunden, ebenso viel ver-steckt wie enthüllt (die Maske im antiken Theater verbarg und trug gleichermaßen die Stimme). Sie verleiht auf jeden Fall die Chance, Blößen zu bedecken. 

Dieses abstrakte Drittel läßt es auch nicht zu, daß der Filmemacher allein durch die Faszination, die seine Figur auf ihn ausübt, eine selbstgefällige Haltung einnimmt.
Das Leben in der Gesellschaft bringt viele Menschen dazu, »sich darzustellen«, eine Rolle zu spielen. Der Film würde mit größter Sicherheit Langeweile produzieren, wenn er sich darauf beschränken würde, dieses kleine Theater nachzuzeichnen (eine Kritik, die man nur allzuoft Dokumentarfilmen über Künstler anhängt). Die Faszination ist ein hervorragender Motor, aber der Film muß auch in der Lage sein, sie zu vermitteln. Einen Gesichtspunkt zu schaffen, heißt, genau Abstufungen zu finden im Verhältnis zu schon vorhandenen Inszenierungen. 

Seit mehreren Jahren ist die »Ethik des Dokumentarfilms« ein Modethema für Diskussionen. Was verstehen wir in diesem Zusammenhang darunter? 

1 Die Verantwortung des Filmemachers gegenüber der zu filmenden Person. Es kommt vor, daß empfindliche oder besonders belastete Menschen durch Dreharbeiten in eine Krise gestürzt werden. Wenn man die Personen, die man filmt, mit ihren eigenen Verteidigungssystemen konfrontiert und sie dann dazu bringt, darüber hinauszugehen, können Dreharbeiten eine zerstörerische Dynamik in Gang setzen. Es ist daher sehr wichtig, daß der Regisseur mit Folgen rechnet, die möglicherweise für Menschen auftauchen, die sich zunächst mit dem Filmen einverstanden erklären. Diese Folgen sind übrigens nur selten bedrohlich: wenn es so ist, daß die Dreharbeiten zumindest für die Lebensumstände der Gefilmten die wahrgenommene Realität verändern, so kommt es auch ab und zu vor, daß die Personen, die sich selbst darstellen sollen, von der Gelegenheit profitieren, an sich zu arbeiten. 

2 Die Verantwortung bezieht sich auch auf die Öffentlichkeitswirkung des produzierten Bildes. Filmen heißt auch manchmal Privates, Geheimes und Intimes ins Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Die Pflicht des Filmemamchers ist es, die Folgen einer solchen Enthüllung abzuschätzen im Hinblick auf das Vorleben der gefilmten Personen, das Bild, das diese selbst von sich haben. 

Wie wird das Portrait durch ein Publikum aufgenommen? Es kann exotisch, malerisch, sympathisch, bizarr etc. sein. Es bewegt sich zwischen zwei Polen: Es deckt sich mit den eigenen Erfahrungen oder ist einem fremd. Einerseits erscheint die Figur wie die Illustration eines soziologischen, psychologischen oder ethnologischen Typus, den man vermeintlich kennt. Andererseits ist sie ein Abbild völliger Fremdheit. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es natürlich tausenderlei Abstufungen und mögliche Varianten. 

Deshalb scheint das Portrait manchmal ganz bequem zu sein, ohne »große Risiken«. Die Typisierung und das Atypische sind jedes auf seine Weise faszinierend und so hat der Regisseur scheinbar leichtes Spiel. Er wird entweder den einen oder anderen Effekt erzeugen. Wenn die Figur unsere Vorurteile widerspiegelt, bestätigt sie uns. Wenn sie unverständlich ist, verblüfft sie uns genauso wie im umgekehrten Fall. 

Das Portrait würde uns letztendlich ermüden, wenn es nur in diesem engen Rahmen bliebe und nur aus dem ewigen Festschreiben des Individuums bestünde (alles in allem gibt es Milliarden von Individuen und ihre Eigenheiten haben alle etwas Urmenschliches). 

Es besteht jedoch immer noch Hoffnung, daß sich in den Kämpfen, die der Einzelne gegen die Welt und sich selbst ausficht und in den Lösungen, die er für sein Leben findet, das »große Unbekannte«spiegelt, das unsere Wahrnehmung vom Anderen verändert, das uns die Fassung raubt. 

Wenn es soweit ist, dann bleibt das Dokumentarportrait ein Versprechen, eine spannende Reise ins Ungewisse.
Übersetzung aus dem Französischen: Heidi Meinzolt-Depner