TAGUNG

Visual Anthropology –
Indien im Dokumentarfilm

Eine Innensicht unabhängiger indischer Filmemacher auf ihr Land 

Als eines der bevölkerungsreichsten Länder der Welt entwickelt sich Indien unübersehbar zur wirtschaftlichen Weltmacht. Während indische Produkte und Kulturgüter mehr und mehr zu internationalen Exportschlagern werden, vollzieht sich innerhalb der indischen Gesellschaft ein tiefgreifender sozialer und kultureller Wandel und längst nicht alle profitieren vom Wirtschaftsboom ihres Landes. 

Neben Indiens bekanntester Filmindustrie “Bollywood” erfährt seit einiger Zeit trotz erheblicher Schwierigkeiten und staatlicher Zensur vor allem die Dokumentarfilmszene einen bemerkenswerten Aufschwung. Unabhängige Filmemacher haben es sich zur Aufgabe gemacht, einen anderen Blick auf ihr Land zu werfen. Vor diesem Hintergrund erscheint ein wissenschaftlicher Blick auf diese lebendige Filmszene indiziert. Erster Gast wird die visuelle Anthropologin Nicole Wolf aus London sein, die zunächst die Geschichte und die aktuellen Tendenzen des indischen Dokumentarfilms skizzieren wird. Rahul Roy, unabhängiger indischer Filmemacher, wird anschließend über die Herausforderungen unabhängiger Filmcommunities (u.a. die VIKALP-Gruppe) sprechen und in einer interaktiven Session seinen dokumentarfilmischen Ansatz darstellen. 

THE CITY BEAUTIFUL

Dezent und leise betritt der indische Filmemacher den Lebensraum zweier Familien, die in SUNDER NAGRI – der “Schönen Stadt”, einem von Arbeitslosigkeit geprägten Vorort von Delhi leben. Trotz der Unaufdringlichkeit seiner Kamera ist Rahul Roy dem Geschehen nahe, stellt Fragen und wird von den Protagonisten in deren Kommentare und Beobachtungen eingebunden. Der Film beschäftigt sich mit den ungesehenen und unbemerkten Auswirkungen der Globalisierung, die jene treffen, welche ihren Lebensunterhalt in traditionellen Berufen verdienen oder nicht über die Ressourcen verfügen, um den wechselnden Anforderungen der urbanen Arbeitswelt zu genügen. In Hiralals großer Familie, welche sich über drei Generationen erstreckt, gibt es mehrere Personen, die sich um den Lebensunterhalt kümmern – allen voran er selbst. Doch nun fällt der Arbeitsplatz des Familienoberhauptes weg, sein Webstuhl wird durch eine moderne Maschine ersetzt. Der nun drängenden Frage nach der Zukunft vermag er nur mit der betäubenden Wirkung des Alkohols zu begegnen. Ein Film der zeigt, wo die globale Ökonomie lokal Wurzeln schlägt und wem sie die Lebensgrundlagen entzieht. 

DELHI-MUMBAI-DELHI

Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, tanzt Riya in den Bierkneipen von Bombay. Der Dokumentarfilm begleitet sie auf dem Weg von ihrem Wohnort Delhi nach Bombay, wo Hunderte von jungen Arbeiterinnen auf der Suche nach Arbeit und einer besseren Zukunft landen. Riyas Zukunft ist ungewiss, und auch in der Gegenwart ist sie mit mancherlei Problemen konfrontiert. Da ist die Polizei, die ihre Familie in Delhi schikaniert, da ist ihr Agent mit seiner ständigen Forderung nach mehr Trinkgeld, und auch die Arbeit selbst verlangt ihr viel ab. Jedoch gibt es auch die anderen Mädchen, mit denen sie viel Spaß hat; auch fehlt es nicht am Geld für schöne Kleidung und außerdem sind da noch die Männer… Verehrer, die ihr das Paradies auf Erden versprechen. Der Dokumentarfilm ist ein intimes Portrait des Alltags der Mädchen, ihrer Agenten und ihrer Umgebung. DELHI-BOMBAY-DELHI wurde vor dem Hintergrund umstrittener Maßnahmen der Regierung von Maharashtra gedreht, die ein Tanzverbot für Mädchen in Bierkneipen durchsetzen will. 

Saba Dewan, 1987 Abschluss in Film- und TV-Produktion am Mass Communication Centre, Jamia Millia Islamia, Neu Delhi, seitdem unabhängige Dokumentarfilmerin. Ihre Arbeit fokussiert auf Gender, Arbeit und Sexualität. DELHI-MUMBAI-DELHI wurde vom Jan Vrijman Funds unterstützt. 

MAJMAPERFORMANCE

Was heißt “Mann Sein” im heutigen Indien. Ein Land, das in rasanter Geschwindigkeit wächst, das jeden Tag ein neues Indien verkörpert und die hier lebenden Menschen vor neue Herausforderungen und Anforderungen stellt. Hier heißt Überleben: anpassen, durchsetzen und kämpfen um seine Identität. Majma wirft einen unverblümten Blick auf den Wandel der Männlichkeit innerhalb der indischen Gesellschaft und beleuchtet auf eindrucksvolle Art und Weise das Leben zweier Inder, deren Versuch ihrer Männlichkeit zu entsprechen nicht unterschiedlicher sein könnte: Die eine Welt skizziert einen Ringer-Lehrmeister, der eine traditionelle Vorstellung des männlichen Lebens hat und dessen Attribute nicht nur lebt, sondern als notwendig und richtig erachtet. In der anderen Welt begegnet dem Zuschauer eine melancholisch wirkende Existenz: ein Mittdreißiger, der sein Geld damit verdient, auf dem Markt sein Wissen über die männliche Sexualität zu “verkaufen”. Zwei Geschichten des indischen Mannes und damit auch zwei Vorstellungen: die der Tradition und die der Konfrontation. 

WHEN FOUR FRIENDS MEET

Ein Arbeiterviertel am Stadtrand Delhis ist das Zuhause von Bunty, Kamal, Sanjay und Sanju, vier “besten Freunden”, die vom Filmemacher Rahul Roy über ein halbes Jahr lang begleitet werden, um etwas über deren Lebens- und Erlebenswelt zu erfahren. Ihr jugendliches Leben ist geprägt von der Auseinandersetzung mit der harschen Realität des indischen Alltags und der Last, der seit dem frühen Kindesalter zu erfüllenden Pflichten, welche eigentlich in die Welt der Erwachsenen gehören. Erschwerend kommt hinzu, dass die sich rapide wandelnde Umwelt eine Orientierung kaum zulässt und die Balance zwischen verstaubten elterlichen Erwartungen und der grell überzogenen Idealwelt der Bollywood-Filme eine buchstäbliche Zerreißprobe darstellt. Der Filmemacher lässt uns spüren, wie die Träume, Wünsche und Vorstellungen der Jugendlichen trotz alledem ihren Weg in die Realität suchen und gelegentlich auch finden. Nah, echt und sympathisch – ein Film so wie ein Freund für den Anderen. Und so bedauert man, dass nach den kurzen 43 Minuten der Film bereits zu Ende ist.