Fatwa

Brahim Nadhour, ein Tunesier, der seit der Trennung von seiner Frau in Frankreich lebt, kehrt nach Tunis zurück, um seinen bei einem Motorradunfall tödlich verunglückten Sohn zu begraben. Er entdeckt, dass der junge Marouane in einer radikal-islamistischen Gruppe aktiv war. Brahim beschließt, die Gründe für seine Radikalisierung herauszufinden und die Menschen zu identifizieren, die ihn indoktriniert haben. Im Verlauf der Recherchen beginnt er, an den Umständen seines Todes zu zweifeln.
Brahims Nachforschungen verdichten sich zu einer Bestandsaufnahme der heutigen tunesischen Gesellschaft. In seinem früheren Viertel trifft er auf viele liberal gesinnte Menschen, die dennoch nur vorsichtig Auskünfte geben, offensichtlich aus Angst vor Verfolgung. Seine Ex-Frau, eine säkular eingestellte Intellektuelle und angesehene Autorin, muss bei öffentlichen Auftritten mit Anschlägen rechnen. Der Film nutzt geschickt die Form des Detektivfilms, wurde sorgfältig mit großer Authentizität inszeniert und z.T. mit Laien besetzt. Man spürt eine Verwandtschaft zu den Filmen der Gebrüder Dardenne, die den Film mitproduzierten.

Ô! CAPITAINE DES MERS

Dem Ruf des Meeres können sie nicht widerstehen. Die in den unterschiedlichsten Berufen arbeitenden Männer der nordtunesischen Halbinsel Cap Bon werden einmal im Jahr zu stolzen Fischern, die ein uraltes Ritual pflegen. Von den Italienern und Spaniern übernahmen sie – durch die Unabhängigkeit Tunesiens auf sich alleine gestellt - eine traditionelle Technik zum Fang von Thunfischen. Voller Ehrfurcht erzählen sie die Geschichte von Rais Labhar, dem ersten arabischen Kapitän, der sich die geheim gehaltene Fangmethode aneignete und sie an seine Landsleute weitergab. “Madrague” nennen die Einheimischen die Kunst des Thunfischfangs.

Jedes Jahr ziehen sie mit ihren kleinen Booten hinaus aufs Meer, wo sie sich zur “Matanza” treffen. Einem Durcheinander aus Männern, die an riesigen Netzen ziehen, und zappelnden Fischleibern, die mit bloßen Händen auf die Bootsplanken geworfen werden, wo sie ihr Leben aushauchen. Das blutige Schauspiel lenkt die Fischer für kurze Zeit von der Armut und Perspektivlosigkeit ab, die ihr Leben bestimmt. Mit einem großen Fest geht die Matanza zu Ende. Ein Fest zu Ehren des Thunfisches, den sie hier mit einer schönen Frau vergleichen.

Die “Madrague” von Sidi Daoud bildete schon den Hintergrund zweier Filme von tunesischen Filmemachern: Samana Chikly, dem Pionier des tunesischen Kinos zu Anfang des 20 Jahrhunderts (einige der Bilder werden von Hichem Ben Ammar in seinem Film eingesetzt) und Hassan Daldoul, der dieses Thema in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufnahm.

CAFICHANTA

Der Film zeigt das Leben und die Atmosphäre des einzigen noch bestehenden “Café Chantant” in der Altstadt von Tunis. In der Vergangenheit waren diese Kaffeehäuser ein fast mythischer Ort der geselligen Unterhaltung, in denen allabendlich gesungen und getanzt wurde. Heute lebt diese Tradition nur noch im Fastenmonat Ramadan weiter. Der Filmemacher erzählt in einfühlsamen Porträts von Sängern und Tänzerinnen die legendäre Geschichte des “Cafichanta”. In Einblendungen von historischen Photographien wird das Alltagsleben in den alten Stadtvierteln von Tunis lebendig. Der Dokumentarfilm wurde im Jahr 2000 auf mehreren internationalen Filmfestivals gezeigt, u.a. in Mailand, Montreal und Karthago, und nahm an Wettbewerben des “Cinéma Arabe” in Paris und “Festival du Film Francophone” in Namur teil. 

Hichem Ben Ammar, geboren 1958 in Tunis. Ausbildung in Film und Medien an der École des Beaux Arts in Tunis. Mitbegründer einer Cinémathèque, Mitarbeit bei Ciné-Clubs und beim wichtigsten arabischen Filmfestival Journées Cinématographiques de Carthages, Mitglied im Filmkritikerverband. Unterrichtstätigkeit im Fach Film am Institut de Presse et des Sciences de l’Information (IPSI) der Universität Tunis. 

Filme: ENNEJMA EZZAHRA (1994); LA MAISON DE L’ENFANT (1996); FEMMES DANS UN MONDE DE FOOT (1998), CAFICHANTA (2000); RAIS LABHAR Ô ! CAPITAINE DES MERS (2002).

ESPRIT ET LE CŒUR

Ahmed Jelman ist der Gründer einer populären Musikgruppe, die durch die schnelle Verbreitung ihrer Kassetten und CDs einen Kult-Status im heutigen Tunesien erlangt hat. Seine Stimme, die eingängigen Melodien und der Rhythmus der ‚Songs’ knüpfen an eine religiös begründete Sufi-Tradition an, die heute in Tunesien weit verbreitet ist. Die Tradition des ‚Hizb Ellatif’ begleitet alle wichtigen Stationen des religiösen Lebens vieler Menschen im heutigen Tunesien: Geburt, Beschneidung, Ehe, Tod. Durch die Gesänge wird diesen Anlässen ein göttlicher Segen zuteil. 

Die spirituelle Dimension der Musik hat dabei etwas Rituelles, wie auch einfach nur Unterhaltendes. Die Musiker schaffen diese Verbindung ohne profan zu werden; die Musik wird nicht zum ‚Pop’, obwohl sie populär ist. 

Der Film bringt ‚Geist und Herz’ auf einen Nenner. Er zeigt – nahezu beiläufig – die Verbindung zwischen religiösem Alltag und Musikformen, die populär und traditionell sind. 

Molka Mahdaoui, 1975 in Clamart, Frankreich, geboren. Filme: KHMISSA (2000); L’ESPRIT ET LE CŒUR (2004).

MAKING OFKAMIKAZE

Der junge Tunesier Bahta (Lotfi Abdelli) träumt davon, als Breakdancer berühmt zu werden, doch Breakdancing ist in Tunesien nicht gern gesehen, die Polizei verjagt die Tänzer. Bahta ist ohne Ausbildung, arbeitslos und im Dauerstress mit seiner Freundin. Auch die Möglichkeit, nach Europa zu fliehen, ist ihm durch den Irak-Krieg genommen. Eine Gruppe Terroristen versucht, ihn für ihre Sache zu begeistern -und eine zweite Erzählebene wird etabliert. Hinter Bahta taucht Schauspieler Lotfi Abdelli auf und beschuldigt den Regisseur der Manipulation: Er habe einen Tänzer, keinen Terroristen spielen wollen. In drei in den Handlungsablauf eingeschnittenen Making Of -Sequenzen diskutiert er mit dem Regisseur die Thesen seines Films. Der Schauplatz entlarvt sich als Set, die Handlung als Film. Fiktion und Realität verschwimmen.

Warum finden viele Jugendliche die Idee, zu töten und zu sterben, attraktiv? -In einem Interview mit Larissa Bender spricht der Regisseur Nouri Bouzid von der „Verlorenheit“ der arabischen Jugend auf geistiger Ebene und der „Verzweiflung in ökonomischer Hinsicht”. Das bereitet den Boden für den fundamentalistischen Islam, der die innere Knebelung in erstarrten Gesellschaftsstrukturen und die äußere Wut über die anmaßende westliche Politik in ihrer Region zu nutzen weiß. „Die Verantwortung ist klar im Film. Wir alle sind verantwortlich: die Polizei ist verantwortlich, die fehlende Freiheit ist verantwortlich, die familiäre Struktur, das Scheitern des Ausbildungssystems. Wir alle haben den Jugendlichen vorbereitet und die Islamisten haben ihn gepflückt.“

Preise: Karthago 2006; FESPACO, Ouagadougou 2007; Tribeca Film Festival 2007; Taormina Film Festival 2007; Oran International Film Festival 2007.

Nouri Bouzid (1945) gehört zu den profiliertesten und erfolgreichsten Regisseuren im arabischen Raum. Aufgewachsen in der Hafen-und Industriestadt Sfax, Studium am Institut National Superieur des Arts du Spectacle (INSAS) Brüssel. 1972 kehrt er nach Tunesien zurück. Weil er sich einer oppositionellen politischen Gruppierung anschließt, sperrt ihn die Regierung für fünf Jahre ins Gefängnis. Die Erfahrung von Erniedrigung und Folter werden seine weiteren Arbeiten prägen. In seinen Filmen hat er immer wieder gesellschaftskritische und im arabischen Raum tabuisierte Themen aufgegriffen. Drehbücher: HALFAOUINE -L’ENFANT DES TERRASSES (1990), LA NUIT DE LA DÉCENNIE (1990), LE SULTAN DE LA MÉDINA (1992), LES SILENCES DU PALAIS (1994), LA SAISON DES HOMMES (2001). Filme: DUEL (1972), L’HOMME DE CENDRES (1986), LES SABOTS EN OR (1989), C’EST SHEHERAZADE QUON ASSASSINE (1991), BEZNESS (1993), LES MAINS DANS LE PLAT (1993), BENT FAMILIA (1998), POUPÉES D’ARGILE (2002).

LA MAISON D’ANGELA

Seit ihrer Geburt lebt Angela (75) in dem Haus ihrer Eltern in La Goulette, einer Kleinstadt vor den Toren von Tunis. Jetzt soll sie das Haus verlassen, damit es abgerissen werden kann; ein schmerzhafter Prozess, verbunden mit vielen Erinnerungen an ihre frühere Nachbarschaft. 

Olfa Chakroun studierte zunächst Theaterwissenschaften, bevor sie zum Film kam. Heute arbeitet sie als Professorin für Film an der Hochschule für Kunst und Medien in Tunis. Filme: LA MAISON D’ANGELA (2010).
Dionigi Albera, Anthropologe, arbeitet am Centre National de la Recherche Scientifique CNRS

Tunisie Année Zéro (work in progress)

TUNISIE ANNÉE ZÉRO ist ein Film über die Redefreiheit, die die Menschen in Tunesien wiederentdeckt haben. Ein Film über die Stimmung im Land, in einer Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft: ein Frühling in dem begleitet von Angst und Hoffnung Korruption und Amtsmissbrauch des früheren Regimes angeprangert wurden. Die Kamera bewegt sich vor allem in La Goulette, einem der nördlichen Randbezirke von Tunis. Der Stadtteil war in den vergangenen Jahren besonders von Spekulationen im großen Stil kulturell wie materiell betroffen. Fischer, Kleinhändler, Restaurantbesitzer und andere Berufsgruppen stehen im Mittelpunkt des Films. Noch immer sind sie vom Verlust ihres Wohn- und Arbeitsplatzes bedroht.

Es klingt dramatisch aber auch humorvoll, wenn sie von den Verrücktheiten des alten Regimes erzählen, das über Jahrzehnte das Leben in Tunesien bestimmt hat. Der Zuschauer wird so in die Debatte einbezogen, die die politischen und kulturellen Diskussionen im Land bestimmen.

Olfa Chakroun siehe LA MAISON D’ANGELA.

Camera d’Afrique - 20 ans du cinéma africain

CAMERA D’AFRIQUE erzählt die Geschichte einer Handvoll Leute, zerstreut über den riesigen afrikanischen Kontinent, die seit 20 Jahren den selben Traum träumen: dem afrikanischen Kino zu dienen. Seit der Unabhängigkeit ihrer Länder stellen sich die afrikanischen Filmemacherinnen der Kamera. Mit finanziellen Schwierigkeiten, ohne technische Infrastruktur, nur ausgerüstet mit dem Wissen, daß das Kino die Welt verändern kann, kämpfen sie gegen starke westliche Filmindustrien an, die die Kinosäle Afrikas mit ihren Filmen bestücken. Das Ziel dieser filmemachenden Frauen und Männer besteht in der Entkolonialisierung der afrikanischen Leinwände, d.h. endlich afrikanische Filme mit afrikanischen Themen zu produzieren. Es kommen Sembène Ousmane, Med Honda, Safi Fayé, Oumara Ganda, Ola Balogun, Souleymane Cissé und Gaston Kaboré zu Wort. Das Ergebnis ist eines der erstaunlichsten Kinos der Welt - das afrikanische Kino.

Der Film zeichnet die Geschichte dieses Kinos nach, und besteht zu Teilen aus Auszügen der bekanntesten Filme Afrikas. (Festival Katalog 1987)