Pastorales

Seit Jahrhunderten leben die Berber in den Bergen des Mittleren und Hohen Atlas von Landwirtschaft und Viehzucht. Was die Umwelt ihnen bietet, reicht heute nicht mehr zum Lebensunterhalt. Bodenerosion und die Übernutzung der Weiden zwingen die Männer alle Monate wieder zur Arbeit in die Stadt. Die aber ist weit weg und der Transport allein frisst einen Großteil des Lohns wieder auf. 2008 begann Marokko mit der Erschließung ländlicher Gebiete. Mit großem Aufwand und viel Handarbeit wurden Strommasten in den unebenen felsigen Grund getrieben. Da sie den Hausanschluss aber selbst bezahlen mussten, begann der Einzug der Moderne für die meisten mit Schulden.

Über acht Jahre hat Ivan Boccara den Prozess der Elektrifizierung begleitet. Detailliert beobachtet er die Folgen, die bald sichtbar werden. Vor allem die Jugend zieht es in die Stadt, wo sie andere Ausbildungsmöglichkeiten erwarten. Welche Perspektiven eröffnet die Elektrifizierung?

 

LE GRAND VOYAGEDIE WEITE REISE

Kurz vor seinem Abitur muss Reda die Provence verlassen, um seinen Vater mit dem Auto nach Mekka zu bringen. Im beengten Raum des Wagens gibt es nun keine Ausflucht mehr: Vater und Sohn sind gezwungen, miteinander zu reden und das ist keineswegs einfach. Reda, geboren in Frankreich, versteht Arabisch, ohne es zu sprechen und hat mit Religion und Tradition nicht viel am Hut. Sein Vater, geboren in Marokko, versteht wiederum Französisch, ohne es zu sprechen. Mobiltelefon und andere westliche Gewohnheiten haben für ihn wenig Wert. Im Laufe dieser 5000 Kilometer langen Pilgerfahrt mit zufälligen Begegnungen werden Vater und Sohn sich näher kennen lernen und dabei entdecken, was sie voneinander trennt, aber auch (und vor allem), was sie trotz allem verbindet. Ein Roadmovie, das die weiten Landschaften und Städte Italiens, der Slowakei, Kroatiens, Serbiens, Bulgariens, der Türkei, Syriens, Israels und schließlich Saudi-Arabiens in poetischen Bildern einfängt und nicht zuletzt durch den Hauptdarsteller Nicolas Cazalé beeindruckt. 

Ismaël Ferroukhi, geboren 1962 in Kenitra, Marokko, wächst im französischen Crest auf. Er arbeitet als Drehbuchautor mehrfach mit Cédric Kahn zusammen und realisiert als Regisseur und Autor die Filme UN ÉTÉ AUX HIRONDELLES (1997) und PETIT BEN (1998), die sich wie LE GRAND VOYAGE mit dem Islam und marokkanischen Migranten in Frankreich auseinandersetzen. 

I SEE THE STARS AT NOON

Im Januar 2004 traf der Filmemacher in der nord-marokkanischen Stadt Tanger auf den 26 Jahre alten Marokkaner Abdelfattah. Er ist einer von vielen Afrikanern, die versuchen, die Straße von Gibraltar an Bord von Frachtschiffen oder mit Luftbooten zu überqueren, um so illegal nach Spanien einzuwandern. Am Ende ihres Treffens willigt Abdelfattah ein, dass Saeed ihn auf seiner Reise mit der Kamera begleitet: die Treffen mit den Menschenhändlern, seine Bemühungen die 750 Euro für den Transfer aufzutreiben und die letzten Tage mit seiner Familie vor der Abreise. I SEE THE STARS AT NOON bietet eine einzigartige Innensicht in Abdelfattahs hoffnungslosen Versuch, Europa zu erreichen. Manchmal humorvoll, manchmal aber auch aufwühlend zeigt der Film die Umstände, unter welchen Abdelfattah alles für eine unsichere Zukunft aufs Spiel setzt. Sein Ehrgeiz ein neues Leben zu beginnen, seine Erwartungen an Europa und seine Frustration über das Versagen seines eigenen Landes werden sichtbar. I SEE THE STARS AT NOON ist aber nicht nur das Porträt eines hoffnungsvollen Immigranten, es stellt auch die Frage nach der Objektivität in der dokumentarischen Arbeit. Wenn Abdelfattah wissen will, warum sein Leben zur Unterhaltung eines europäischen Publikums gefilmt wird und was er dafür als Gegenleistung erhält, wird letztlich die Beziehung zwischen Filmemacher und seinem Protagonisten hinterfragt.

Saeed Taji Farouky ist selbständiger Journalist und Photograph. Im Fokus seiner Arbeiten stehen kulturelle und politische Themen des Nahen Ostens. 

THE DAMNED OF THE SEA

Essaouira - ehemals Mogador – war einst der größte Fischereihafen für Sardinen weltweit. Heute ist dort der Fisch aus dem Meer verschwunden. Tausende marokkanische Fischer aus Essaouira, Safi und Agadir sind gezwungen in den Süden der West-Sahara nach Dakhla zu ziehen, in der Hoffnung dort noch Fisch zu finden. Aber auch vor der Küste Dakhlas warten schon die Trawler, die unter fremder Flagge mit ihren Schleppnetzen und Hightechausrüstung das Meer leer fischen und das Ökosystem völlig zerstören. Während die Regierung die Fanglizenzen ans Ausland verkauft, ist es den einheimischen Fischern nur noch zu bestimmten Zeiten erlaubt, aufs Meer zu fahren. Dazwischen müssen sie zusehen, wie ihre Lebensgrundlage verschwindet.

Jawad Rhalib zeigt beide Seiten dieser Geschichte. In eindrücklichen Bildern schildert er 63 die Folgen, die der magere Fang auf die Bevölkerung Dakhlas mit sich bringt: der sinkende Umsatz der Geschäftsleute und die Not der Armen. Auf der anderen Seite zeigt THE DAMNED OF THE SEA die Situation an Bord eines schwedischen Fangschiffes. Kapitän und Mannschaft müssen unter enormem Produktionsdruck Hochleistungserträge einfahren, um im Preiskampf der europäischen Fischindustrie konkurrieren zu können.

Filmografie siehe: EL EJIDO -THE LAW OF PROFIT

MIMOUNE

Illegale“ Einwanderung ist nicht allein ein Problem unserer Gesellschaft. Nicht nur der Immigrant leidet an der sozialen Entwurzelung, der schwierigste Part dieses Problems ist die Trennung der Familien. Dieser Film entstand aus dem Wunsch die Familie von Mimoune Bensaada für einen kurzen Augenblick zusammenzubringen. Er lebt als Flüchtling in Spanien, seit Jahren getrennt von seiner Frau und seinen Kindern, die in Marokko zurückgeblieben sind. Ein lang gehegter Wunsch der Familie geht in Erfüllung, wenn auch nur mit Hilfe einer Kamera. 

Gonzalo Ballester, 1982 in Murcia, Spanien geboren. Er behandelt in seinen Kurz-und Dokumentarfilmen vor allem soziale Fragen. Filme: MUJTAR (2002), LA CÁMARA: TESTIGO DE LA REALIDAD, LA PERSIANA (2003), LOS INVASORES (2004), LA BODA (2006), LA SERENISSIMA (2006), EL ÚLTIMO PAISAJISTA (2007), THE MOLKY WAY ( 2008). 

MAKING OFKAMIKAZE

Der junge Tunesier Bahta (Lotfi Abdelli) träumt davon, als Breakdancer berühmt zu werden, doch Breakdancing ist in Tunesien nicht gern gesehen, die Polizei verjagt die Tänzer. Bahta ist ohne Ausbildung, arbeitslos und im Dauerstress mit seiner Freundin. Auch die Möglichkeit, nach Europa zu fliehen, ist ihm durch den Irak-Krieg genommen. Eine Gruppe Terroristen versucht, ihn für ihre Sache zu begeistern -und eine zweite Erzählebene wird etabliert. Hinter Bahta taucht Schauspieler Lotfi Abdelli auf und beschuldigt den Regisseur der Manipulation: Er habe einen Tänzer, keinen Terroristen spielen wollen. In drei in den Handlungsablauf eingeschnittenen Making Of -Sequenzen diskutiert er mit dem Regisseur die Thesen seines Films. Der Schauplatz entlarvt sich als Set, die Handlung als Film. Fiktion und Realität verschwimmen.

Warum finden viele Jugendliche die Idee, zu töten und zu sterben, attraktiv? -In einem Interview mit Larissa Bender spricht der Regisseur Nouri Bouzid von der „Verlorenheit“ der arabischen Jugend auf geistiger Ebene und der „Verzweiflung in ökonomischer Hinsicht”. Das bereitet den Boden für den fundamentalistischen Islam, der die innere Knebelung in erstarrten Gesellschaftsstrukturen und die äußere Wut über die anmaßende westliche Politik in ihrer Region zu nutzen weiß. „Die Verantwortung ist klar im Film. Wir alle sind verantwortlich: die Polizei ist verantwortlich, die fehlende Freiheit ist verantwortlich, die familiäre Struktur, das Scheitern des Ausbildungssystems. Wir alle haben den Jugendlichen vorbereitet und die Islamisten haben ihn gepflückt.“

Preise: Karthago 2006; FESPACO, Ouagadougou 2007; Tribeca Film Festival 2007; Taormina Film Festival 2007; Oran International Film Festival 2007.

Nouri Bouzid (1945) gehört zu den profiliertesten und erfolgreichsten Regisseuren im arabischen Raum. Aufgewachsen in der Hafen-und Industriestadt Sfax, Studium am Institut National Superieur des Arts du Spectacle (INSAS) Brüssel. 1972 kehrt er nach Tunesien zurück. Weil er sich einer oppositionellen politischen Gruppierung anschließt, sperrt ihn die Regierung für fünf Jahre ins Gefängnis. Die Erfahrung von Erniedrigung und Folter werden seine weiteren Arbeiten prägen. In seinen Filmen hat er immer wieder gesellschaftskritische und im arabischen Raum tabuisierte Themen aufgegriffen. Drehbücher: HALFAOUINE -L’ENFANT DES TERRASSES (1990), LA NUIT DE LA DÉCENNIE (1990), LE SULTAN DE LA MÉDINA (1992), LES SILENCES DU PALAIS (1994), LA SAISON DES HOMMES (2001). Filme: DUEL (1972), L’HOMME DE CENDRES (1986), LES SABOTS EN OR (1989), C’EST SHEHERAZADE QUON ASSASSINE (1991), BEZNESS (1993), LES MAINS DANS LE PLAT (1993), BENT FAMILIA (1998), POUPÉES D’ARGILE (2002).