UNDER ONE ROOF

Drei Zimmer in einer bedrückend engen, labyrinthischen Wohnung in der Nähe des Bahnhofs St. Charles in Marseille, die einer chinesischen Familie gehören: Yuan, ihr Bruder Bin und ihr Vater.  In den begrenzten Ruhepausen zwischen ihrer anstrengenden Arbeit überlegen die beiden Geschwister, ob sie in Marseille bleiben oder nach China zurückkehren sollen. Ist “not so bad” alles, was man sich als im Ausland lebende Migrant*in wünschen darf? 

PARADISE

Das Dorf Shologon liegt in der Taiga im Nordosten Sibiriens. Eine extreme Hitzewelle entzündete vor zwei Jahren heftige Waldbrände in der entlegenen Region. Die Anwohner nahmen es zunächst gelassen, doch die Feuersbrunst rückte näher und näher. Vom Staat war keine Hilfe zu erwarten, denn das Dorf liegt am Rand einer Zone, in der nur wenige Menschen leben, weshalb man die Feuer sich selbst überlässt. Der Bevölkerung bleibt nichts anderes übrig, als sich zu organisieren und das Feuer so weit wie möglich zurückzuhalten und darauf zu hoffen, dass es bald wieder regnet. Verschiedene Trupps, immer im gegenseitigen Kontakt, überwachen die Brände, alle Männer und auch Frauen kämpfen mit einfachsten Mitteln gegen den “Feuerdrachen”.  

Für die Kameraarbeit erhielt Paul Guilhaume zu Recht einen Preis. In seinen Aufnahmen wird die brennende Landschaft zum Sinnbild der Bedrohung durch den Klimawandel. Im dichten Rauch, ein einziges Farbspektakel von gelb bis rot, verfolgt man die Silhouetten der Menschen, fürchtet und wundert sich, wie sie Hitze und Rauch aushalten. Ein konzentriert beobachtender Dokumentarfilm, dessen Dramatik der Zuschauer sich kaum entziehen kann.  

Alexander Abaturov, geb. 1984 in Nowosibirsk. Nach seinem Studium der Kommunikationswissenschaften arbeitete er als Journalist für die Bundespresseagentur. Im Jahr 2010 erwarb er einen MA in kreativem Dokumentarfilm an der Dokumentarfilmschule von Lussas in Frankreich. Filme: SLEEPING SOULS (2013, 53 min); THE SON (2018, 71 min). 

Regie: Alexander Abaturov
Kamera: Paul Guilhaume
Montage: Luc Forveille, Alexander Abaturov
Ton: Myriam René, Sorin Apostol, Frédéric Buy
Produktion: Petit à Petit Production
Verleih: The Party Film Sales

TOLYATTI ADRIFT

Tolyatti ist das russische Detroit. Früher galt Toljatti als Zentrum der sowjetischen Automobilindustrie, mit Vollbeschäftigung für alle und bescheidenem Wohlstand. Doch heute hinkt die Fast-Metropole dem einstigen Ruhm des AwtoWAS, des Wolga-Automobilwerks, hinterher und ist die Stadt mit der höchsten Jugendarbeitslosigkeit in Russland. Slava, Mischa und Lera halten sich mit schlechten Jobs über Wasser. Mischa hat in Westeuropa ein Praktikum gemacht, hätte auch in Russland die Aussicht auf einen guten Job – aber nicht in Tolyatti. Auch Lera denkt daran, ihre Heimatstadt zu verlassen. Slava schließlich spricht viel vor, findet aber kaum Arbeit. Außerdem soll er zur Armee eingezogen werden. Doch für das Schmiergeld zur Befreiung vom Wehrdienst ist er zu knapp bei Kasse. Also suchen sich die jungen Leute einen anderen, wagemutigen Zeitvertreib. Mit getuneten alten Ladas – womit sonst? – fahren sie im Winter über die in Tolyatti besonders breite, zugefrorene Wolga. Jugendlicher Wagemut trotzt dem Eis und Polizeikontrollen und ein eskapistischer Elan schlägt für einen Moment die Realität. (Kira Taszman) 

Laura Sisteró, 1986 geboren in Barcelona. 2012 erwarb einen Bachelor-Abschluss in Film an der ESCAC-Schule in Barcelona und spezialisierte sich auf Dokumentarfilmregie. Derzeit verbindet sie ihre Arbeit als Fotografin, Werbe- und Fernsehregisseurin mit eher persönlichen Spiel- und Dokumentarfilmprojekten. TOLYATTI ADRIFT ist ihr erster abendfüllender Dokumentarfilm und wurde u. a. auf dem Krakauer Filmfestival als bester Film über soziale Themen ausgezeichnet. 

 

WE, STUDENTS!

Nestor, Aaron und Benjamin sind Rafikis engste Freunde. Sie alle studieren Wirtschaft an der Universität von Bangui. Doch Rafiki will Filme machen und beginnt, ihr Leben mit der Kamera zu dokumentieren. Nach den Vorlesungen hängen sie vor der Uni oder im Wohneim ab und diskutieren  über die Zukunft ihres Landes, der Zentralafrikanischen Republik, aber auch über ihre ganz unmittelbare Lebensrealität, über Dating und Arbeit. Sie fragen sich, wie es weitergehen soll. Als junge Menschen mit Zugang zu Bildung verstehen sie sich als diejenigen, die das Land in den nächsten Jahrzehnten formen werden. Doch wie schafft man es, ein System umzugestalten, wenn doch ein großer Teil der Energie in elementare Bedürfnisse, das eigene Überleben fließt? 

In seinem Langfilmdebüt nimmt uns Regisseur Rafiki Fariala mit in den Kreis seiner Freunde und ermöglicht damit einen unmittelbaren, poetischen und zugleich unverstellten Blick auf die Realität von Millennials in Bangui. (Berlinale) 

Rafiki Fariala, geboren 1997 in Uvira im Kongo wuchs in der Zentralafrikanischen Republik auf. 2013 veröffentlichte er das Stück WHY WAR, das ihn als Musiker bekannt machte. 2017 nahm er am Dokumentarfilmworkshop der Ateliers Varan in Bangui teil und realisierte in diesem Rahmen seinen ersten Kurzfilm MBI NA MO (You and Me).  

 *12.05. vor Ort, 20.05. via Zoom

ORDALIES, LE TRIBUNAL DE L’INVISIBLE

Terminänderung: Die Filmvorführung findet am Sonntag, 21.05. um 11:30 statt (nicht wie geplant um 10:30)

 

Hexerei ist eine soziale Realität in Subsahara-Afrika. In Brazzaville sind die Gerichte voll von Fällen, in denen Voodoo-Rituale, Zauberer, Geister und andere unsichtbare böse Kräfte eine Rolle spielen. Der Film dokumentiert die Arbeit eines traditionellen Gerichts, welches sich in erster Linie als Versöhnungsgericht sieht. Um die Schuldigen zu überführen, können die Richter “den Unsichtbaren” befragen - Hellseher, die die Identität des Zauberers enthüllen. Danach entscheiden die Richter, welches Ritual zur Lösung des Konflikts durchgeführt werden soll. Diese Phase des Geisterurteils wird von den Richtern als Ordalie bezeichnet. Im Europa der Inquisition wurde mit einer Ordalie das Urteil über eine Person dem Göttlichen übergeben. 

Hadrien La Vapeur, nachdem er zehn Jahre dem Regisseur Philippe Garrel assistiert hat, wendet er sich der Realisierung von Experimentalfilmen und fotografischen Arbeiten zu. 2009, auf der Suche nach verlassenen Gebäuden in Rio de Janeiro, gerät er zufällig in ein Besessenheitsritual. Diese Begegnung mit den Geistern bringt sein Weltbild durcheinander und veranlasst La Vapeur, die Beziehungen, die Menschen mit unsichtbaren Wesenheiten eingehen können, zu erforschen. 

Corto Vaclav, studierte Anthropologie an der Universität Paris Nanterre. Er entdeckte das Werk von Jean Rouch und arbeitete für das Komitee für ethnografischen Film. Dort lernt er Hadrien La Vapeur kennen, der einen Tontechniker für eine Reise in den Kongo sucht. Sehr schnell verwandelte sich ihre Reise in eine initiatorische und vielschichtige Erkundung. Seitdem arbeiten die beiden gemeinsam an ihren Filmen.  Filme: L’ÉTRANGE HISTOIRE DE PRINCE DETHMER (2018, 23 min), KONGO (2019). 

Regie: Hadrien La Vapeur, Corto Vaclav
Kamera: H. La Vapeur, C. Vaclav, Y. Schreck
Produktion: Brother Films, Expédition Invisible

SPACE WOMAN

Tripoli, Nordlibanon. Maha ist 64 Jahre alt und gerade in Rente gegangen. Dieses neue Leben konfrontiert sie mit ihrer Einsamkeit als geschiedene Frau, deren Kinder seit Jahren im Ausland leben. Die Gesellschaft ihrer treuen Nachbarn reicht Maha nicht mehr aus, um das schreckliche Gefühl der Leere und Langeweile zu bekämpfen, in dem sie sich nun befindet. Aber hatte sie nicht schon immer davon geträumt, Astronautin zu werden? Wär das nicht ein Ausweg? 

Hadi Moussally wurde 1987 im Libanon geboren. Er studierte Filmregie und “Dokumentarfilm und anthropologisches Kino” in Paris. Seit 2012 hat er mehrere Filme und Fotoprojekte verschiedener Genres realisiert. Im Jahr 2015 gründete er die Produktionseinheit H7O7, deren Hauptziel die Herstellung und Förderung von Filmen und Fotos mit “hybrider” Berufung ist - die Mischung von Genres zwischen Experimental-, Dokumentar-, Mode- und Spielfilm. www.hadimoussally.com

Regie, Buch: Hadi Moussally
Musik: Loopstache

TENACE

Der Film beginnt mit Sand, der Grundlage von Glas und Beton und entfaltet sich weiter als eine Meditation über urbane Infrastruktur, Gebäude, Oberflächen. Surreale und sinnliche Bilder konfrontieren uns mit Bestandteilen von Städten. Obwohl TENACE kein städtisches Leben zeigt, erzählt er dennoch von urbaner Gesellschaft. Mit ruhiger Kameraführung und eigenwilligen Rhythmus läd TENACE dazu ein, über unsere Einbettung in die Materialität von Städten und ihren Einfluss auf unsere Erfahrung nachzudenken.

Wenn die Stadt irgendwann völlig erbaut, aufgeräumt und von allen Formen der Störung befreit ist, was wird dann übrigbleiben?

Regie, Buch, Kamera, Ton:  Jean Baptiste Barra, Timothée Engasser
Montage, Ton: Théo Peruchon
Kontakt: t.engasser@hotmail.fr

 

143 SAHARA STREET

Ein winziges Café am Transsahara-Highway, ein Tresen, ein Tisch, Fenster, die offene Tür. Wie zum Kurzauftritt erscheinen verschiedenste Reisende auf dieser spärlichen Bühne, Fremde und Stammgäste, zu einem Kaffee nebenbei und manchmal vieldeutigem Gespräch. Nur ihre Katze leistet der Betreiberin Malika beständig Gesellschaft. Draußen ist Sand und der Schwerverkehr donnert vorbei, nebendran wird grad eine riesige Tankstelle gebaut.

Eigentlich wollte der Regisseur ein Roadmovie drehen, sein Film aber geriet zum Gegenteil.

Bei Malika kommt die Welt zum Stillstand. Sie ist der unverrückbare Ruhepol, an welchem die Gäste aus der Ferne stranden, einen Moment ausruhen, Alltägliches kommentieren, ins Sinnieren geraten. Obwohl dokumentarisch entstanden, wirken die zufälligen Begegnungen wie inszeniert. Mit dem Auge der Kamera folgen wir gebannt einer schwebenden Zeit zwischen Nähe und Fremdheit.

Best emerging director, Locarno Int. Film Festival 2019 

Special jury mention, Montréal Int. Documentary Festival RIDM 2019 

Price of the city of Torino, Torino Film Festival 2019 

Hassen Ferhani, geb. 1986 in Algier. Er engagierte sich schon früh im Chrysalide Filmclub, der zu einer Künstlerorganisation gehörte; arbeitete als Drehbuch- und Regieassistent und nahm 2008 an Workshops der FEMIS in Paris teil. Seine Kurzfilme LES BAIES D’ALGER (2006), AFRIC HOTEL (2011), TARZAN, DON QUICHOTTE ET NOUS (2013) liefen auf internationalen Festivals. Sein erster Langfilm DANS MA TÊTE UN ROND-POINT (2015) erhielt Auszeichnungen u.a. von FID Marseille und IDFA (Freiburger Filmforum 2017).

Regie, Kamera: Hassen Ferhani
Montage: Nadia Ben Rachid, Hassen Ferhani, Nina Khada, Stéphanie Sicard
Ton: Mohamed Ilyas Guetal
Sounddesign: Antoine Morin
Mit Malika, Chawki Amari, Samir Elhakim
Produktion: Allers Retours Films
Verleih: Pascale Ramonda pascale@pascaleramonda.com

MERRY CHRISTMAS, YIWU

Obwohl in China kein Weihnachten gefeiert wird, gibt es im ostchinesichen Yiwu über 600 Fabriken für Weihnachtsdekoration. Fast zwei Drittel aller weltweit verkauften Weihnachtsartikel werden hier hergestellt. Wie am Fließband dekorieren junge Leute aus dem ganzen Land jahrein, jahraus Weihnachtskugeln, sprühen Glitter auf die seltsamsten Dekoartikel oder staffieren Weihnachtsmänner mit Polsterwatte aus. Wer hier arbeitet, verdient vergleichsweise gut, wird vom Betrieb rundum versorgt und die KollegInnen ersetzen die Familie fern von daheim. Hier scheint ein chinesischer Traum wahr zu werden, der die Hoffnung schürt, sich vielleicht sogar irgendwann selbständig machen zu können.

Ohne Wertung folgt die Kamera den jungen ArbeiterInnen in dieser künstlich, surrealen Welt; nur der Betrachter fragt sich, wie lange - oder ob - wir uns diesen Wunsch nach massenhaftem kurzweiligem Vergnügen zu Weihnachten noch leisten können.

Mladen Kovačević, geb. 1979 in Serbien. Er studierte Spielfilmregie in Belgrad, London und Kapstadt, widmete sich später jedoch dem Dokumentarfilm. Seine Filme erzielten mehrfach Auszeichnungen auf internationalen Festivals. UNPLUGGED (2013) behandelt die serbische Tradition des Musizierens mit Blättern. WALL OF DEATH, AND ALL THAT (2016) porträtiert das Nomadenleben einer Motorrad-Artistin. Das essayistische Bergsteigerporträt 4 YEARS IN 10 MINUTES (2018) gewann u.a. eine Special Mention der Visions du Réel und war IDFA Best of Fests. MERRY CHRISTMAS YIWU war 2017 ein Eurodoc Projekt und wurde in Koproduktion mit Arte und dem Doha Film Institut hergestellt.

Regie: Mladen Kovačević
Kamera: Marko Milovanović
Montage: Jelena Maksimović
Musik: Olof Dreijer
Sounddesign: Patrik Strömdahl
Produktion: Horopter Film Production
Verleih: Hanne Biermann info@deckert-distribution.com

Be’ Jam Be - the Never Ending Song

Das Leben der Penan, im Malaysischen Bundesstaat Sarawak auf Borneo, ist von der massiven Zerstörung des Regenwaldes bedroht. Wie können die ehemaligen Nomaden ihr Weiterleben gestalten, wenn ihr Lebensraum, und damit ihre Lebensgrundlage, zunehmend vernichtet wird? Getragen von Sprechgesängen des Widerstandes erzählt der Film von dem Konflikt zwischen traditioneller Lebensweise und dem Kampf gegen die Planierraupen.