Da hilft nichts: Auf Stress reagiert auch der moderne Mensch wie sein steinzeitlicher Vorfahr. In Sekundenschnelle entscheidet die Körperchemie zwischen Angriff und Flucht. Neben dem morgendlichen Kater, seinen Eltern, dem Kampf mit dem Nikotin und seinem kaputten Auto ist Marius Vizereanus größter Stressfaktor der anstehende Besuch in der Patchworkfamilie, in der seine kleine Tochter Sofia mit der Oma, der Mutter und deren neuem Freund Aurel lebt. Marius ist dort höchstens als Zaungast eingeplant, aber heute will er Sofia zu einem Ausflug ans Meer abholen.
Wenn die Kamera mit ihm die enge Wohnung betritt, verwandelt sie sich förmlich in ein Messgerät. Jeder Blutdruckanstieg, jede Gefühlsregung, Wut, Sarkasmus, Drohungen, Selbsterniedrigung – alles wird minutiös aufgezeichnet. Schmutzige Wäsche und offene Rechnungen inklusive. Lange dauert Marius’ Besuch nicht, wir erleben ihn in Echtzeit, doch da der Kosmos der Familie erfahrungsgemäß ein großes Gefühlsspektrum bietet, können die exzellenten Darsteller hier aus dem Vollen schöpfen. Die Erfahrung ist fast immer eine Parodie auf die Idee. Das gilt auch für die Idee von Familie. Auch bei unauflöslichen Familienbanden helfen Angriff oder Flucht. Oder beides. Berlinale 2012