Das Werk von Melissa Llewelyn-Davies 
von Anna Grimshaw

Gegenstand dieses Aufsatzes ist die Arbeit von Melissa Llewelyn-Davies, einer Ethnologin, die in den letzten zwanzig Jahren überwiegend für das Fernsehen gearbeitet hat. Melissa Llewelyn-Davies ist uns weitgehend als Dokumentaristin der Maasai, ostafrikanischer Viehnomaden, bekannt. Die Maasai leben in Loita, einem Landstrich, der sich an der kenyanisch-tanzanischen Grenze erstreckt. Der Maasai-Filmzyklus von Llewelyn-Davies wird im Mittelpunkt dieser Abhandung stehen. Er beginnt mit den beiden frühen Filmen MASAI WOMEN (1974) und MASAI MANHOOD (1975); es folgen THE WOMEN’S OLAMAL (1984) und die fünfteilige Filmserie DIARY OF A MAASAI VILLAGE (1984); und wird vorläufig von dem letzten Film, MEMORIES AND DREAMS (1993) abgeschlossen.

Erstaunlicherweise werden die Filme von Llewelyn-Davies unter Ethnologen selten diskutiert. Llewelyn-Davies, die sich dieser Tatsache bewußt ist, macht es an dem Umstand, daß sie für das Fernsehen arbeitet, fest. Teil des Problems ist, daß sich Ethnologen nicht darüber im Klaren sind, was sie mit Filmen erreichen wollen. Oftmals werden Filme als Illustration für Thesen benutzt, welche durch konventionelle Methoden gewonnen wurden. Obwohl die Filme in den Fachbereichen zu Lehrzwecken in Einführungskursen der Ethnologie eingesetzt werden, werden sie selbst in höheren Semestern kaum kritisch hinterfragt. Außerdem sind Ethnologen, wie die meisten Akamdemiker, beunruhigt über die Beziehung zwischen ihrer spezialisierten Wissenschaftsdiskurse und dem, was sie als Medium populärer Unterhaltung wahrnehmen.

Die Karriere Melissa Llewelyn-Davies als Filmemacherin ist deshalb interessant, weil ihre Arbeit durch diesen Widerspruch vorangetrieben wurde. Das Fernsehen hat Llewelyn-Davies einen kreativen Spielraum eröffnet, der es ihr gestattete, sich der Begrenztheit der wissenschaftlichen Ethnographie zu entziehen und mit einer bemerkenswerten Bandbreite von Genres zu experimentieren, die vom dokumentarischen Exposé über dramatische Erzählungen bis hin zur ‘soap opera’ und Erkundungen des Unbewußten reicht. Im Laufe dieser Entwicklung hat sie nicht nur neue Themen im Fernsehen etabliert, sondern auch die formalen Konventionen des Mediums in Frage gestellt. 

Intellektuelle lehnen üblicherweise das Fernsehen ab; man kann sich kaum noch daran erinnern, daß ihm ursprünglich enorme kreative Möglichkeiten zugeschrieben wurden. Aber für Dokumentar-Filmemacher der 60er (wie Denis Mitchell oder Richard Leacock) und eine ganze Anzahl von Dramatikern und Schriftstellern (z.B. Dennis Potter) bot das Fernsehen eine neue Art der Herausforderung; und das Arbeiten für ein Massenpublikum stimulierte Einzelne, Innovationen in Form und Inhalt für ihre Arbeiten neu zu entwickeln.

Ich glaube, daß es das ungewöhnliche Nebeneinander der Sensibilität einer Ethnologin und der Disziplin eines öffentlichen Mediums ist, welche die Arbeit von Melissa Llewelyn-Davies ermöglichte. Obwohl Llewelyn-Davies sich seit zwanzig Jahren außerhalb der akademischen Welt bewegt hat, ermöglichen es ihre Werke den zentralen Diskussionen innerhalb der Ethnologie neue Perspektiven anzubieten. Ich würde sogar sagen, daß die fünf verschiedenen Teile des Maasai-Filmzyklus die Veränderung widerspiegeln, welche die Disziplin nach dem zweiten Weltkrieg durchgemacht hat, und die in einer fundamental neuen Betrachtungsweise der hergebrachten Paradigmen und Konzepten gipfelte.(…)

Durch die genaue Untersuchung der sich wandelnden Machart des Maasai- Filmzyklus kann auch ein Wandel altmodischer ethnographischer Auffassungen zu einer offeneren Erforschung des Menschen in der Geschichte ausgemacht werden, welche die fortschrittlichere Entwicklung der Sozialanthropologie im späten zwanzigsten Jahrhundert widerspiegelt.

Die vier Filmprojekte können paarweise betrachtet werden, jedes gegensätzlich zum anderen und Gegensätze in sich tragend. Die Variablen dieser Gegensatzpaare wären: Autorenschaft und Autorität (‘Zeigen’ und ‘Erzählen’); die Zuschauer als aktive und passive Beobachter; geschlossene oder offene Welten; Norm und ‘Realität’; das Sichtbare und das unsichtbare Innere; die Beziehung zwischen Text, Bild und Ton; Erzählung und Collage. Es gibt natürlich weitere Themen, welche aufgegriffen werden können, jedoch liegt die Betonung der Filme auf der Beziehung zwischen dem Ethnologen/Filmemacher und Subjekt sowie dem Rezipienten als Betrachter im Sinne eines Mikrokosmos der Gesellschaft im Allgemeinen, und eröffnet dem Film den Spielraum zur Erforschung des Lebens einer solchen Gesellschaft mit experimentellen Mitteln.

MASAI WOMEN und THE WOMEN’s OLAMAL sind beides Filme über die mutmaßlich geschlossene Welt einer selbstbewußten Maasai-Gesellschaft. Jeder hat eine narrative Sequenz, jedoch wird in MASAI WOMEN die ‘first story’ durch die Ethnologin mittels eines erklärenden ‘voiceover’ Kommentars eingeführt, in THE WOMEN’S OLAMAL dagegen tritt sie mehr durch die Ereignisse selbst in Erscheinung. Daraus läßt sich folgern, daß normative Verallgemeinerungen in MASAI WOMEN durch die Handlungen der Menschen in THE WOMEN’S OLAMAL ersetzt werden. Vom Publikum, das im ersten Film als passiver Zuschauer behandelt wird, wird dagegen im zweiten eine aktivere Rolle bei seiner Interpretationsarbeit erwartet. Dieser Wandel des kinematographischen Stiles vom Erzählen zum Zeigen reflektiert den Kontrast zwischen Didaktik und einer mehr beobachtenden Annäherung durch den Vorgang des Filmens. Obwohl die Filmemacherin noch immer die Autorin eines konstruierten Ganzen ist, werden die Mittel zur Übermittlung ihrer Aussagen immer indirekter; und die Bilder, welche einem gesprochenen Kommentar in MASAI WOMEN untergeordnet sind, gewinnen im zweiten Film eine größere Bedeutung. Auf diese Weise zeigt sich, wie sich Llewelyn-Davies von der professionellen Orthodoxie beider Disziplinen, der Ethnologie und dem Dokumentarfilm, wegbewegt. Konsequenterweise erschließt sie sich Themen einer ungewisseren und konfliktbelasteteren Welt, die sie in ihrem feministischen Engagement stärker zum Ausdruck bringt.

Die beiden folgenden Filmprojekte brechen mit dem erzählenden Realismus der ersten beiden Filme, obwohl in THE DIARY halbherziger als in MEMORIES AND DREAMS. Beide Filme stellen die Einbeziehung der Maasai in die Komplexität einer modernen Welt dar, so ordnet Lleweyn-Davies die Zeitangabe für den Film auf eine Weise zu, die die orthodoxe Ethnologie derzeit als völlig unpassend empfindet. Die Idee einer fortschreitenden Entwicklungslinie ist gebrochen, und stellt sich durch die Collagetechnik fragmentarisch (DIARY) und die Montage (MEMORIES AND DREAMS) dar. DIARY, von einigen wie eine ‘soap opera’ gesehen, stellt Belange des täglichen Lebens neben Ereignisse aus der “Jetztzeit” des Drehens. Dem Zuschauer wird durch eine lineare Erzählung normalerweise eine Hilfe gegeben, denn die zusammengefügte Handlung gibt ein “verschwommeneres Bild“ des dörflichen Lebens wider. So stellt Llewelyn-Davies eine übliche dokumentarische Praxis, die ‘Krisen-Situation’, vor, die die Turbulenzen des menschlichen Lebens unter ihrer Oberfläche zu Tage treten läßt.

Llewelyn-Davies verfolgt diese Linie in einem radikalerem Schluß in MEMORIES AND DREAMS: Die Durchdringung der Oberfläche führt uns in die Tiefen des seelischen Lebens. Die Welt der Träume und Erinnerungen, einer intimen Subjektivität und individuellen Persönlichkeit, wird als Gegenstück erkundet zu der sich in Bewegung befindlichen Außenwelt, in der die Maasai sich nicht länger selbstbewußt bewegen können. Darin besteht die bedeutende Innovation dieser Serie: eine Einführung in Geschichte, ein Nebeneinandersetzen von Vergangenheit und Gegenwart, ausgedrückt in der Montage. (…) Ihre Anwendung als eine Technik, bringt Gegensätzliches zusammen (Hier und Jetzt , Dort und Dann) und kreiert so etwas Neues. Einen Höhepunkt dessen liefert Llewelyn-Davies in ihrem letztem Film MEMORIES AND DREAMS: als das Äußere einer Hütte für zeremonielle Anlässe gezeigt wird, spielt die Tonspur zwanzig Jahre alte Geräusche wir sollten den Maasai-Filmzyklus als ein Ganzes betrachten. (…)
Auszug aus: Anna Grimshaw: Conversations with Anthropological Film-Makers: Melissa Llewelyn-Davies, Prickly Pear Press, Cambridge 1995, S. 8-16
(Übersetzung aus dem Englischen)