von Johannes Rühl

Die vorliegenden Filme über vietnamesische Kulturen sind in den letzten 15 Jahren entstanden. Sie wurden in erster Linie im Auftrag des Staates produziert, um das friedliche Zusammenleben der ‘Gemeinschaft der vietnamesischen Nation’ (community of vietnamese nation) zu demonstrieren. Neben den Vietnamesen (Kinh) die 80-90% der Bevölkerung ausmachen, leben innerhalb der Staatsgrenzen von Vietnam weitere 53 Volksgruppen, die sogenannten Minderheiten. In Vietnam selbst weiß man und spricht es auch offen aus, daß es sich bei den alten Filmen über Minderheiten um Propagandafilme handelt. Es ist noch nicht lange her, als Filmbrigaden, bepackt mit schweren 35mm Projektoren, durch die Dörfer zogen, um mit Filmen die Menschen für die sozialistische Idee zu begeistern.

Der lange Krieg und die schwierige Zeit danach haben in Vietnam wie in den Nachbarstaaten Laos und Kambodscha in den letzten 40 Jahren jede ethnologische Forschung unmöglich gemacht. Das ethnologische Wissen über Südostasien stammt aus der Zeit der französischen Kolonisation, und spätere ethnologische Forschung der Amerikaner im südlichen Landesteil wurde für Kriegszwecke instrumentalisiert. So wissen wir auch heute nicht, welche Spuren die jüngste Geschichte in den Lebensverhältnissen dieser Menschen hinterlassen hat. Die hier vorgestellten Filme geben über diese Fragen (noch) keine Auskunft. Dennoch zeigen sie, daß ethnische Minderheiten in Vietnam in keiner Weise als kulturell minderwertig angesehen werden. Alle Gruppen der vietnamesischen Gesellschaft werden gleichermaßen in den angestrebten Modernisierungsprozeß mit eingebunden.

Angesichts der ethnischen Konflikte auf dem Balkan oder in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ist man in Vietnam durchaus vorsichtig, was eine Liberalisierung der Informationspolitik in Bezug auf die Minderheiten angeht. Ethnische Konflikte sind wohl das Letzte, was Vietnam in einer Zeit der völligen ökonomischen Umstrukturierung gebrauchen kann. Um so mehr muß jede Maßnahme der Öffnung gewürdigt werden. Den ausländischen Besuchern ist es seit zwei Jahren gestattet, sich überall im Lande frei zu bewegen, also auch in den Bergregionen, in denen ethnische Minderheiten bisher in völliger Isolation lebten.

Die Filme, die gezeigt werden, sind alle von ausgebildeten Regisseuren im Hanoier Dokumentarfilmstudio und im ‘Armee Film Studio’ produziert worden. Die meisten Filmemacher wurden an den Filmhochschulen in Potsdam, in Moskau oder Havanna ausgebildet. In der Regel sind die Filme Auftragsproduktionen des Staates. Die Regisseure suchen sich ihren Stoff, der bestimmten formalen und inhaltlichen Kriterien genügen muß, selbst aus. Selbstverständlich durchlaufen alle Filme die Zensur. Das in Freiburg gezeigte Material ist eine Auswahl unter etwa 40 gesichteten Filmen. Leider waren viele dieser Filme in einem nicht mehr vorführbaren Zustand. Das ORWOFarbmaterial aus der DDR erwies sich als tropenuntauglich, und viele Kopien sind schon nach wenigen Jahren unbrauchbar. Die Filme wurden ausschließlich stumm in 35mm gedreht, in Einzelfällen wurde nachsynchronisiert. In der Regel ist dem Material Musik und ein Kommentar unterlegt.

Unabhängig von der propagandistischen Absicht haben die Filme einen bestimmten Filmstil, der auch in den Spielfilmen wie in jeder anderen Form künstlerischen Ausdrucks in Vietnam wiederzufinden ist. Die poetische Verklärung des Selbst und ein politisch verordnetes harmonisches Bild der Kulturen untereinander, verhindern eine Abbildung der Wirklichkeit. Auf einem zweitägigen Seminar zum ethnologischen Film am 6. und 7. Januar 1995 in Hanoi (mehr dazu in meinem Artikel im ‘journal film’, Nr. 29) wurde u.a. der Film Celso and Cora von Gary Kildea gezeigt. Bei manchen Regisseuren stieß der Film auf Ablehnung, weil er offensichtlich die realen Verhältnisse in den Slums von Manila zeigte. Ein Film dürfe nicht nur die reine Wirklichkeit abbilden, er müsse auch ein “Kunstwerk” sein.

Mit den vietnamesischen ethnologischen Dokumentarfilmen haben wir erstmals nach vierzig Jahren die Gelegenheit, filmische Dokumente über die Menschen in den Bergregionen Vietnams zu zeigen.

Gleichermaßen war das erwähnte Seminar die erste Möglichkeit für die Vietnamesen ethnologische Filme zu sehen. Die zweitägige Veranstaltung im Vietnam Cinema Department mit Filmen von Rouch, Gardner, Kildea und Conolly/Anderson stieß auf überaus großes Interesse. Wenn alles klappt, wird es im Frühjahr 1996 einen ersten Kurs in ‘Visueller Anthropologie’ an der Filmhochschule in Hanoi geben.