So wenig, wie es den ethnographischen Film als einheitliches Gebilde gibt, gibt es die Ästhetik des ethnographischen Films. Seine Hauptanziehungskraft gewinnt dieses Filmgenre sicherlich aus der Exotik seiner Themen: fremde Kulturen, Lebensweisen und Vorstellungswelten, geheimnisvolle Rituale, farbenprächtige Feste und Tänze. Doch die unterschiedlichen Auffassungen von Wissenschaft lassen sich in den Filmen - die ja der Ethnologie verpflichtet sind - wiederfinden. Einer Wissenschaft, die nicht nur positivistische, sondern auch hermeneutische, poetische u.a. Traditionen hervorgebracht hat, und damit zusammenhängende unterschiedliche filmische Darstellungsweisen sowie persönliche Eigenheiten bestimmter Filmautoren (Jean Rouch, Robert Gardner, David MacDougall - um nur einige wenige zu nennen) lassen Filme unterschiedlicher ästhetischer Wirkungsweisen entstehen.

Filmautoren, die einem positivistischen Wissenschaftsverständnis anhängen, neigen etwa dazu, sich einer Ideologie der Transparenz zu verschreiben: Für sie ist die Synchronton-Kamera ein neutrales Instrument, das die Realität in objektiven Bildern und Tönen einzufangen imstande ist. Tatsächlich jedoch sind ihre Filme überausartifiziell, ‘fiktiv’ hergestellt - die Anwesenheit des Filmteams, der Technik wird als Abwesenheit dargestellt, filmische Verfahren werden z.B. mit Hilfe einer vom Zuschauer unbemerkten Montage, kontinuierlichen Erzählweise, in Augenhöhe stehenden Kamera usw. unsichtbar gemacht. Tatsächlich inszenieren sie einen ‘rein beobachtenden’ Blick auf die fremdkulturelle Wirklichkeit, die dem Zuschauer in einem als neutrale Wissensinstanz auftretenden Kommentar erklärt wird (alle traditionell-ethnographischen Filme sind hierfür ein Beispiel). Auf diese Weise produzieren sie eine Ästhetik der Kunstlosigkeit.

Filmautoren dagegen, die einer hermeneutischen Wissenschaftsauffassung verpflichtet sind, sind sich ihres subjektiven Beteiligtseins am Zustandekommen ihrer Forschungsergebnisse bewußt. Daher machen sie in der Struktur ihrer Filme selbst deutlich, daß diese etwas Gemachtes sind - etwa durch Sichtbarmachung der Arbeit der Kamera und des Mikrophons, spürbare Montage, direkte Adressierung des Zuschauers, dialogische Inszenierung (siehe z.B. die Filme der MacDougalls). Doch sind auch sie nicht immun gegenüber der spezifischen Ideologie des Films, ‘gelobtes Leben’ abzubilden. Filmische Strategien wie Vermeidung des Zooms, lange Sequenz-Einstellungen, ’nichtprivilegierter Kamerastil’ (David MacDougall), die ‘Betroffenen’ selbst sprechen zu lassen usw. stellen eine Ästhetik des Realismus, der unvermittelt wirkenden Realitätswiedergabe her.

Das Werk Jean Rouchs wiederum ist Beispiel für eine sehr persönliche, subjektive, ja poetisch zu nennende Arbeitsweise. Seine ethnographischen Filme, die häufig Rituale mit starker Eigendramaturgie zum Thema haben, wollen Geschichten erzählen, keine ‘Illusion eines objektiven Blicks’ hervorrufen. Sein Kamerastil betont Spontanität, Assoziation, macht die Suche nach Bildern deutlich: Innerhalb einer Einstellung wird scheinbar unmotiviert vom Ereignis auf die Landschaft oder einen Gegenstand geschwenkt, von einer Totalen auf ein Detail hin und wieder zurückgezoomt. Die Kamera ist beinahe ständig in Bewegung: Rouch geht mit ihr, verfolgt Bewegungen, greift den Rhythmus tanzender Körper auf. Die Bildausschnitte sind häufig fragmentarisch. Auswahl und Montage der Perspektiven sind subjektiv, unberechenbar, geben dem Zuschauer Rätsel auf. Ein persönlich gesprochener, oft märchenhafter Kommentar löst in der Regel das Rätsel der Bilder auf. Filmen ist für Rouch ein improvisiertes Spiel, ein Akt der Inspiration, Intuition, ja Gnade. Auf diese Weise entsteht eine für Rouch eigentümliche, an den Surrealismus erinnernde Ästhetik - eine Ästhetik des Zufälligen, Unvollkommenen, Fragmentarischen, der Improvisation, des Rätselhaften und Imaginären.