Der Film gibt nicht vor, die Realität zu ersetzen oder sich über andere Formen der Veröffentlichung zu stellen; seine Kraft besteht darin, dass er zu sehen gibt. (…) Es liegt in der Logik des Films, dass der Zuschauer nie außen vor bleiben darf. Die Kraft eines Dokumentarfilms erstreckt sich immer auch auf die Möglichkeit, den Zuschauer auf seine eigene Identität zu verweisen. Jeder Film über das ‚Andere’ sollte beim Zuschauer zum Nachdenken über sich selbst führen.“(Jean-Paul Colleyn)

Wie mit einigen wenigen Filmen eine kleine Geschichte des Filmforums seit 1985 erzählen? Die ‚Highlights’, die ‚Klassiker’ der Filmgeschichte, die für die visuelle Anthropologie von Bedeutung waren, wurden während 30 Jahre Filmforum vorgestellt und mit den Filmemacherinnen und Filmemachern diskutiert. Die ‚großen’ Namen waren zu Gast in Freiburg: Robert Gardner, John Marshall, Judith und David MacDougall, Patsy und Timothy Ash, Bob Connolly, Mani Kaul – um nur einige wenige zu nennen.

Warum die Fokussierung auf die visuelle Anthropologie? Jean Rouch wird oft mit der Aussage zitiert: ‚Die Anthropologie wird visuell sein oder gar nicht’. Dieser Leitsatz bildete den Einstieg in die Filmreihe im Münchner Stadtmuseum 1984 mit dem Titel ‚Die Fremden sehen. Ethnologie und Film’ (*). Dieser kongenial mehrdeutige Titel für die wohl in Deutschland erste große filmische Aufarbeitung des Verhältnisses der Ethnologen zum Film und zur Filmgeschichte veranlassten uns – der Autor, dazumal im Kommunalen Kino beschäftigt, zusammen mit drei StudentInnen der Ethnologie, die gerade einen Filmkurs am Institut des wissenschaftlichen Films in Göttingen absolviert hatten – etwas Ähnliches in Freiburg im Kommunalen Kino zu veranstalten.

David MacDougall’s Artikel ‚Prospects of the Ethnographic Film’ im schon genannten Buch wies uns den Weg: für ihn ist nicht die Grenze zwischen Dokumentar- und Erzählfilm von Bedeutung, er spricht von Reproduktion und gestaltetem Film und erkennt, dass der Umgang mit dem ‚Fremden’ zwangsläufig zur Reflexion über sein eigenes filmisches Schaffen führt. Da ist dann der Weg des reziproken Blicks des ‚Fremden’ auf uns nicht mehr weit. Damit wäre der Bogen gespannt.

Werner Petermann, einer der Mitautoren des erwähnten Buches zitiert den Ethnologen und Filmemacher Jean Monod mit den nicht gerade freundlichen Worten über seine Berufskollegen: „Sie sehen nicht, sie verifizieren“. Welche Rolle der Film bei dieser Arbeit haben könnte oder sollte ist viel diskutiert worden: Leroi-Gourhan sprach noch vom ‚Forschungsfilm’, vom ‚exotischen Reisefilm’, für Marcel Griaule war der Film ein eher erziehendes Instrument (für die Forschung ebenso wie für die Allgemeinheit), Timothy Asch und John Marshall schwankten noch zwischen objektiver Aufzeichnung und subjektiver Reportage.

Der Begriff der Wahrheit findet sich auch bei Rouch, wenn auch in anderer Form. Sein ‚cinéma vérité’ hat zusammen mit dem ‚direct cinema’ eines Frederik Wiseman (oder anderer anglophonen Filmemacher) längst Eingang gefunden in die allgemeine Filmgeschichte. Hier tritt das ‚Sehen’ in den Vordergrund, das Subjektive als Gegenpart zum ‚objektiv’ Dargestellten des Objektivs der aufnehmenden Kamera.

Auf 30 Jahre Filmforum zurückblickend, haben wir uns für einige wenige Filme entschieden, die es auch heute wert sind gezeigt zu werden.

Der unterschiedliche Blick: PIPARSOD I-III – Leben in einem indischen Dorf

Der Initiator des Projektes, der Ethnologe Jean-Luc Chambard machte die Vorgaben - zwei Filmemacher, ein Inder (Saeed Mirza) und ein Franzose (Raymond Depardon), sollten ihren ganz persönlichen Blick unter gleichen Bedingungen auf das gleiche Objekt werfen dürfen: das Dorf Piparsod in Indien. Dort hatte Chambard schon 1961 im Rahmen seiner Forschung gedreht. Mit den neuen Filmen entstand so eine Trilogie der unterschiedlichen filmischen Konzepte. Welche Teile des Dorfes sieht der Ethnologe? Mit welchen Menschen spricht er worüber? Der Blick des französischen Fotografen ist anders als der Zugang des urban-gebildeten indischen Filmemachers. Dieses Film-Triptychon verdeutlicht am ehesten die Verbindung, aber auch das Trennende zwischen der visuellen Anthropologie und dem dokumentarischen Ansatz.

Die Anthropologen: David und Judith MacDougall / Robert Gardner / Bob Connolly

Fotografie und Film waren seit Bestehen des Filmforums stets miteinander in Kontakt. Filme über Fotografie und von Fotografen, Ausstellungen im und außer Haus (zu Anfang in der Universitätsbibliothek – Fotos von Francoise Huguier und Pierre Verger, später im Museum für Völkerkunde und im Institut Français – die Fotos von Leonore Mau über Hubert Fichtes XANGO) gehörten zum regelmäßigen Programm des Filmforums.

David MacDougall‘s Film PHOTOWALLAHS mag stellvertretend sein: „Der Film wurde aus der Faszination für Fotografie geboren… Anfangs wollten wir nur einige Ideen über die Fotografie untersuchen – welche persönliche Bedeutung Fotografien für die Menschen haben, wie sie gesellschaftliche Belange reflektieren, wie die Menschen sie benutzen um ihre Identität zu festigen… Wir waren von der Idee, in Indien zu drehen, sehr angetan, weil wir das ganz Umfeld visueller Symbolik und die dort praktizierten Techniken des Fotografierens außerordentlich ergiebig fanden…“ (aus: Filmforum Katalog 1993)

Robert Gardners Film FOREST OF BLISS ist – wie Gardner selbst sagt – sein persönlichster Film. Schon seine früheren Filme DEAD BIRDS oder RIVERS OF SAND beziehen den subjektiven Standpunkt des Filmenden und den erzählenden Charakter eines Filmes mit ein: „Ich glaube, alle Dokumentarfilme erzählen in irgendeiner Form eine Geschichte. (…) Ich habe zwar Anthropologie studiert, betrachte mich aber nicht als Anthropologen. (…) Aus meiner psychoanalytischen Erfahrung und meinen literarischen und philosophischen Interessen heraus mache ich Filme.“ (Gardner in einem Interview mit Johannes Rühl im Katalog Filmforum 1989). FOREST OF BLISS ist Gardners radikalster und umstrittenster Film. Der Tagesablauf von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang am Ganges in Benares bildet den Rahmen des Films. ‚Bliss’ könnte man mit Glückseligkeit übersetzen, meint auch den Zustand der Unschuld und der Freude.

Der australische Filmemacher Bob Connolly beschäftigt sich in FIRST CONTACT mit der australischen Kolonisation auf Papua Neu-Guinea. Dabei stellt er Zeitzeugen (Missionare, Plantagenbesitzer, Offiziere, Polizisten) Archivmaterial gegenüber, das in aller Ausführlichkeit den kolonialistischen Zugriff auf die Insel zeigt. Durch die Goldschürfer Michael Leahy und seine Brüder kommen die indigenen Hochlandbewohner 1930 erstmals in Kontakt mit ‚außen’. Der Film stellt dem historischen Material aus dieser Zeit das eigene zeitgenössische Filmmaterial gegenüber.

Frankreich/Sénégal: Jean Rouch und Ousmane Sembène

Legendär ist der Streit zwischen Sembène und Rouch. Auf die Frage von Rouch, warum er seine ‚ethnographischen’ Filme nicht mag, antwortet Sembène: „Parce qu’on y montre, on y campe une réalité mais sans en voir l’évolution. Ce que je leur reproche, comme je le reproche aux africanistes, c’est de nous regarder comme des insectes…“ (France Nouvelle August 1965)

Ousmane Sembène will nicht nur ‚sehen / zeigen’, er will analysieren, zeigen, wohin es geht.… Sein Film LA NOIRE DE ist als exemplarische Studie zum Kolonialismus zu sehen: die junge Hausangestellte, die mit ihren weißen Arbeitgebern nach Frankreich geht, wird dort nur ausgebeutet und scheitert, herausgerissen aus jeglichem Kontext. Ein eindrücklicher Spielfilm, der in Europa als ein erster Schritt in ein eigenständiges afrikanisches Filmschaffen wahrgenommen wurde.

QUE VIVA MEXICO!

Das Filmforum zeigte immer auch frühe Stummfilm-Klassiker, die für die visuelle Anthropologie von Interesse sind, so z.B. Flaherty‘s NANOOK und MOANA. Das allererste Filmforum eröffnete 1985 mit Sergej Eisensteins Stummfilm QUE VIVA MEXICO. Erst wenige Jahre zuvor war die erste, vom damaligen Regieassistenten Grigori Alexandrov restaurierte Fassung des Anfang der 30er Jahre gedrehten Materials veröffentlicht worden. Eisenstein hat die gemeinsam mit seinem Kameramann Edouard Tissé beeindruckend gestalteten Aufnahmen nie selbst gesehen. Schon lange von dem Land fasziniert, wollte er den Geist Mexikos einfangen und in einem umfassenden Werk darstellen, einschließlich der mexikanischen Revolution.

Wir zeigen das Stummfilm-Fragment über die Geschichte und Kultur Mexikos mit Live-Musikbegleitung durch Günter A. Buchwald (Klavier und Viola) und Frank Bockius (Schlagzeug).

Werner Kobe