Ein Film­fest-Kura­tor sagte einmal zu mir, er schätze einige brasil­ian­is­che Doku­men­tarfilme, aber die meis­ten wären schwer ver­ständlich. Er erk­lärte mir, die Schwierigkeit läge darin, daß sie auf die brasil­ian­is­che Bevölkerung zugeschnit­ten und so für Fremde schwer zugänglich seien. Zunächst meinte ich, er habe Unrecht, beschloß dann aber, mir die Doku­men­tarfilm­pro­duk­tion einiger ander­er Länder näher anzuse­hen, um mich danach neuer­lich mit der brasil­ian­is­chen Filmwelt auseinan­derzuset­zen. Ich glaube nicht, daß es so etwas wie eth­nis­che Doku­men­tarfilme gibt, vielmehr sind einige Ten­den­zen in einer Kultur stärk­er aus­geprägt als in einer anderen, einige Genres treten meines Eracht­ens in einem Land stärk­er als ander­swo hervor.

Wenn wir die jüng­sten Pro­duk­tio­nen in Brasilien und Europa ver­gle­ichen, so erken­nen wir einen grundle­gen­den for­malen Unter­schied: Die europäis­chen Doku­men­tarfilme lassen für gewöhn­lich einen Off-Erzäh­ler das Pub­likum geleit­en, wohinge­gen in den brasil­ian­is­chen Doku­men­tarfil­men eine Vielzahl von indi­vidu­ellen Erleb­nis­bericht­en diesen Part übern­immt. Die Europäer bekla­gen den aus­laden­den Gebrauch von Augen­zeu­gen, der die Bilder in den Hin­ter­grund drängt, dage­gen stoßen sich die Brasil­ian­er an der ständi­gen Unter­brechung durch den Off-Erzäh­ler, der die Bilder sein­er­seits in den Schat­ten stelle. Um weder in das eine, noch das andere Extrem zu fallen, sehe ich die Her­aus­forderung in einem Zusam­men­führen beider ästhetis­ch­er Stilmit­tel, wobei let­ztlich deren Gewich­tung und deren Art der Ver­wirk­lichung den per­sön­lichen Stil des jew­eili­gen Doku­men­taris­ten bestimmen.

Es ist jedoch sehr deut­lich, daß sich im let­zten Jahrzehnt in Brasilien eine ganz eigene Art und Weise her­aus­bildete, das Land filmisch abzu­bilden. Die Por­traitierten gelangten immer mehr in den Vorder­grund und gestal­teten den Erzäh­lablauf: Im Namen einer Poly­phonie der Stim­men wird selten auf die Off-Stimme zurück­ge­grif­f­en. Hier sprechen Lan­dar­beit­er, Indios, Kün­stler, Ein­wan­der­er, Obdachlose und viele mehr von durch­lebten Erfahrun­gen. In Wahrheit deutet sich diese Ten­denz schon Mitte der 80er an und erhielt in den 90ern eine große Bedeu­tung und wird sich – wer weiß – bis zum Ende dieses Jahrhun­derts als eine typ­isch brasil­ian­is­che Form der Doku­men­ta­tion etablieren.

Wir wissen, daß ein Doku­men­tarfilm niemals die volle Wahrheit über das filmisch Dargestellte ein­fan­gen kann und daß sich der gezeigte Blick­winkel let­ztlich aus der per­sön­lichen Hal­tung des Reg­istri­eren­den ergibt. Den­noch gelingt es über die Vielzahl an Erleb­nis­bericht­en diese Kon­struk­tion ohne Masken darzustellen, wodurch sich der Zuschauer nicht aus­geschlossen fühlt – ganz im Gegen­teil. Die hohe Zahl der zu Wort kom­menden Stim­men schafft einen sonst schwer erre­ich­baren Grad an Real­ität­streue, die – obgle­ich wir um die Kon­struk­tiv­ität wissen (Auf­nah­men, Auswahl, Edi­tion und Mon­tage) – sich mit dem ganzen drama­tis­chen Inhalt des Erlebten Gegen­wart verschafft.

Und selbst wenn der Doku­men­tarfilm nur auf zwei Erleb­nis­bericht­en aufge­baut ist, kann man die Artiku­la­tion der Mei­n­ungs­bil­dung klar mitver­fol­gen. Es sind also die Zeu­ge­naus­sagen, die den bes­tim­menden Diskurs her­vor­brin­gen. Befre­it von dem unerr­e­ich­baren Off-Erzäh­ler, der den doku­men­tarischen Rede­beitrag gliedert, gewin­nen die Bilder dem­nach an Frei­heit: Dem Zuschauer wird die Möglichkeit eröffnet, Bild und Text unmit­tel­bar gegenüberzustellen, dem, was er gerade sieht und hört, zu wider­sprechen oder auch nicht.

Die Einze­laus­sagen stellen Posi­tio­nen, Mei­n­un­gen heraus, nicht jedoch eine unum­stößliche Erken­nt­nis. Obschon para­dox, ist es möglich, sich genau mit­tels dieser sub­jek­tiv­en Aus­sagen der fokussierten Real­ität zu nähern. Aber dieser Weg, der von einer jungen Gen­er­a­tion von Doku­men­tarfilmern eingeschla­gen wurde, zeit­igt nicht immer ´leichte Lek­türe´. Denn sie enthüllen, daß die Real­ität nichts Geschlossenes, Fer­tiges ist, son­dern unabläs­sig kon­stru­iert wird. Der Doku­men­tarfilmer gibt viele Wege wieder, auf die Real­ität zu blick­en, aber zur gle­ichen Zeit baut er so mehr Unruh­estellen als Lösun­gen ein. Sein Doku­men­tarfilm ist bloß eine Lösung unter vielen. Aber beim Zuschauer, der einen unbeteiligten Erzäh­ler gewohnt ist, als Stimme der Autorität, ruft dies Unsicher­heit und Irri­ta­tio­nen hervor.

Es gibt zweifel­los Doku­men­tarfilme, die sich einer Erzählweise bedi­enen, ohne dabei jeden Augen­blick die Real­ität zu reflek­tieren oder zu beschreiben. Die Erzäh­lung nimmt hier­bei eine poet­is­che Aus­druck­sweise an. Jedoch ist dies nicht der von dem brasil­ian­is­chen Nach­wuchs beschrit­tene Weg.

Vielle­icht kann das, was die jüng­ste Gen­er­a­tion brasil­ian­is­ch­er Doku­men­tarfilmer prägt, als erster bewußter Reflex dessen ange­se­hen werden, wie sich die brasil­ian­is­che Kultur selbst ver­hält: ein Kreuzungspunkt mehrerer Eth­nien, pos­i­tiv gegenüber dem Umgang mit dem anderen eingestellt, und somit ständig in Bewe­gung begrif­f­en. Für jene Doku­men­taris­ten ist es wichtig, mit Hilfe der Diskurse derer, die die Real­ität schaf­fen, den Entste­hung­sprozeß dieser Real­ität – und nicht etwa Wahrheit­en – darzustellen. Hier entste­ht Real­ität aus aufeinan­der­fol­gen­den Reflek­tio­nen, sie geht aus einem Dialog hervor zwis­chen dem­jeni­gen, der doku­men­tiert, und dem­jeni­gen, der doku­men­tiert wird. In diesem Sinne ist der Doku­men­tarfilm gle­ichzeit­ig eine Rekon­struk­tion des Wirk­lichen und ein Ver­such, an der Erfahrung ander­er teilzuhaben. Zur Ver­wirk­lichung ihrer Pro­jek­te nähern sich die Doku­men­tarfilmer heute immer mehr der Kul­tur­an­thro­polo­gie an, während sich die Kul­tur­an­thro­polo­gie ihrer­seits Ken­nt­nisse in visuellen Tech­niken aneignet, um ihre wis­senschaftlichen Stu­di­en durchzuführen. 

Im Doku­men­tarfilm­bere­ich führt diese Zusam­me­nar­beit zu Pro­duk­tio­nen, die tief­gründig aber nicht schw­er­fäl­lig, dicht und den­noch leicht in ihrer Form sind und somit ein immer größer wer­den­des Pub­likum ansprechen. 

Es muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß auch Brasilien nicht frei von der quasi uni­versellen Sack­gasse ist, in die die Doku­men­taris­ten laufen: Bleiben wir autonom und ver­suchen der Real­ität unseres Landes treu zu bleiben oder unter­w­er­fen wir uns den tech­nis­chen Vor­gaben, die eine glob­al­isierte Welt erfordert, for­matiert für den Markt des Kabelfernse­hens? Es scheint mir jeden­falls notwendig, den legit­i­men Drang nach Eroberung neuer Räume der Kom­mu­nika­tion nicht mit Ver­mark­tung der Kom­mu­nika­tion zu verwechseln.
Paula Mor­ga­do (Lab­o­ratório de Imagem e Som em Antropologia/Dept. of Anthropology/University of Sao Paulo)