In einem Inter­view sagte der aus­tralis­che Filmemach­er Dennis O’Rourke von sich selbst, er habe ein beson­deres Inter­esse für mar­ginale Gesellschaften und die Details ihres All­t­ags. (Jour­nal Film, Nr.15, Nov/Dez 1987) Und an ander­er Stelle ver­gle­icht er seine Arbeit als Doku­men­tarfilmer mit der eines Kün­stlers. Er mache Doku­men­tarfilme, welche die Zuschauer nicht bevor­munden, son­dern ihnen helfen, ihre Gedanken zu klären. Seine Filme sollen nicht allein informieren, son­dern provozieren und Erstaunen wecken, genau­so wie das gute Kunst tue. Deshalb hält er auch nicht viel von der strik­ten Tren­nung zwis­chen Doku­men­tar- und Spielfil­men. Beides sind Erzählfor­men. Auch ein Doku­men­tarfilm muß so aufge­baut sein, daß sein Inhalt emo­tion­al und intellek­tuell trägt. Und wenn O’Rourke seine Filme kat­e­gorisieren müßte, dann würde er sie am lieb­sten als moralis­che Erzäh­lun­gen beze­ich­nen. Daß ein solch­es Credo ein per­sön­lich­es Engage­ment voraus­set­zt, liegt auf der Hand, und daß ihre Aus­sagen nicht immer bei allen nur auf Zus­tim­mung stoßen, ebenso. Das zeigte sich schon bei O’Rourkes erstem Film, YUMI YET. Von 1975 bis 1979 lebte der Filmemach­er in Papua-Neuguinea (PNG). Im Auf­trag der aus­tralis­chen Regierung drehte er 1976 einen Doku­men­tarfilm über die Unab­hängigkeits­feiern. Ent­ge­gen den Absicht­en seiner noch-kolo­nialen Auf­tragge­ber erzählte er die Geschichte aus der Sicht der Ein­heimis­chen. O’Rourke verlor zwar seinen Job, aber der Film wurde in PNG zu einem großen Erfolg. Nur zwei Jahre später veröf­fentlichte er seinen zweit­en Film ILEKSEN, über die Vor­bere­itun­gen zu den ersten demokratis­chen Wahlen in PNG. Auch hier zeigt sich sein Talent, die Prob­leme einer mar­ginalen Gruppe mit den Ein­flüssen der dom­i­nan­ten Glob­alkul­tur auf ein­drück­liche Art durch seine Bilder und deren Mon­tage deut­lich zu machen, ohne je her­ablassend auf die eine oder belehrend auf die andere Seite zu wirken. Trotz oder vielle­icht gerade wegen ihrer Sub­jek­tiv­ität sind die beiden Filme für die Eth­nolo­gie zu wichti­gen Doku­menten gewor­den. Dies gilt auch für die näch­sten Pro­jek­te des engagierten Filmemach­ers, ganz speziell für SHARKCALLERS OF KONTU und CANNIBAL TOURS. HALF LIFE ist der bisher einzige Film von Dennis O’Rourke, in dem er Archiv­ma­te­r­i­al ver­wen­det und die moralis­che Erzäh­lung in der Ver­gan­gen­heit fest­macht. Wie der Filmemach­er selbst erk­lärt, hat sich im Laufe des Pro­jek­tes gezeigt, daß die Erzäh­lung über die aktuellen Lebensver­hält­nisse auf Ron­ge­lap ihren drama­tis­chen und tragis­chen Höhep­unkt in der Ver­gan­gen­heit der Nachkriegszeit hat und daher logis­cher­weise dort anset­zen muß.

Alle drei Filme sind zu Klas­sik­ern im Genre des Eth­nofilms gewor­den. O’Rourkes Ansatz, die Prob­leme nicht expliz­it zu nennen, son­dern dem Pub­likum die Grund­la­gen für seine eige­nen Über­legun­gen zu liefern, lassen ver­schiedene Sehweisen auf und Fragestel­lun­gen an die aufgezeigten Zusam­men­hänge zu. Sie sind für ein großes Pub­likum ebenso inter­es­sant wie als Diskus­sion­s­grund­lage in einer uni­ver­sitären Ver­anstal­tung zum Thema Kul­turkon­takt und kul­tureller Wandel. Daß die Filme trotz der Offen­heit ihrer Erzählstruk­tur keine Beliebigkeit in der Inter­pre­ta­tion zulassen, ist O’Rourkes fundiertem Wissen zur jew­eili­gen The­matik und seinem per­sön­lichen, sub­jek­tiv­en Engage­ment, das vor allem in seiner Dop­pel­rolle als Kam­era­mann und Inter­view­er immer wieder deut­lich wird, zu ver­danken. In THE GOOD WOMAN OF BANGKOK hat er diesen Ansatz zum eigentlichen Thema gemacht. Als Filmemach­er wird er zum Pro­tag­o­nis­ten. Durch seine Kamera, von seinem ganz sub­jek­tiv­en Stand­punkt aus, läßt er das Pub­likum Ein­blick nehmen in die kom­plexe per­sön­liche Beziehung, die sich zwis­chen ihm, dem aus­tralis­chen Filmemach­er, und Aoi, der thailändis­chen Pros­ti­tu­ierten, während der Drehar­beit­en entwick­elt. Die erzählte Geschichte ist men­schlich, fast banal, aber den­noch pack­end. Daß O’Rourke es gän­zlich dem Pub­likum über­läßt, sich seine Gedanken zu den kom­plex­en Ver­hält­nis­struk­turen zwis­chen Mann und Frau, zwis­chen unter­schiedlichen Kul­turen und sozialen Stel­lun­gen zu machen, verun­sichert viele und provoziert Kritik.

Die hier genan­nten und im Pro­gramm der Ret­ro­spek­tive gezeigten Filme sind notge­drun­gen eine Auswahl und zeigen nicht das ganze Spek­trum seines Schaf­fens. Neben seinem Inter­esse für die Insel­welt des Paz­i­fiks und für Südostasien, beschäftigt sich Dennis O’Rourke auch inten­siv mit der schwieri­gen Sit­u­a­tion der Abo­rig­ines in seinem Heimat­land Aus­tralien. In COULDN’T BE FAIRER ent­larvt er die heuch­lerische und zynis­che Hal­tung der weißen Bevölkerung Aus­traliens gegenüber ihren dunkel­häuti­gen Mit­bürg­ern und richtet seine Kamera auf die wunden Punkte Ras­sis­mus, Gewalt und Alko­holis­mus. Und auch sein aktuell­stes Pro­jekt gilt dem span­nungsvollen Ver­hält­nis zwis­chen den noch immer mar­gin­al­isierten Abo­rig­ines und der dom­i­nan­ten weißen Bevölkerung. Die Drehar­beit­en dazu sind noch im Gange. (Bar­bara Lüem)

Dennis O’Rourke wurde 1945 in Bris­bane, Aus­tralien geboren. Seine Kind­heit ver­lebte er in kleinen Land­städtchen, bevor er in einem katholis­chen Inter­nat seine höhere Schu­laus­bil­dung erhielt. In den späten 60er Jahren, nach zwei Jahren an der Uni­ver­sität, bereiste er den »Out­back« Aus­traliens, die paz­i­fis­che Insel­welt und einen Teil Südostasiens. Er arbeit­ete als Lan­dar­beit­er, als Viehhirte, auf Ölfeldern und als See­mann, aber auch als auto­di­dak­tis­ch­er Foto­jour­nal­ist. 1970 zog er nach Sydney und über den Umweg als Gärt­ner für ABC (Aus­tralian Broad­cast­ing Com­pa­ny) wurde er zum Filmemach­er. Von 1975 bis 1979 lebte er in Papua-Neuguinea und erlebte den Prozess der Dekolo­nial­isierung mit. Im Auf­trag der neuen Regierung bildete er Ein­heimis­che in den ver­schiede­nen Tech­niken des Filmemachens aus. Danach kehrte er nach Aus­tralien zurück und grün­dete seine eigene Produktionsfirma.

1984/85 und 1990 /91 war er ein »Vis­it­ing Fellow« an der »Research School for Pacif­ic Stud­ies« an der »Aus­tralian Nation­al Uni­ver­si­ty«. Dennis O’Rourke hat fünf Kinder und lebt heute in Canberra.

Filme: YUMI YET (1976); ILEKSENPOLITICS IN PAPUA NEW;GUINEA (1978); YAPHOW DID YOU KNOW WE’D LIKE TV? (1980); THE SHARK CALLERS OF KONTU (1982); HALF LIFE: A PARABLE FOR THE NUCLEAR AGE (1985); CANNIBAL TOURS (1988); THE GOOD WOMAN OF BANGKOK (1991); THE PAGODE DA TIA BETH (1993);