UNDER ONE ROOF

Drei Zimmer in einer bedrückend engen, labyrinthischen Wohnung in der Nähe des Bahnhofs St. Charles in Marseille, die einer chinesischen Familie gehören: Yuan, ihr Bruder Bin und ihr Vater.  In den begrenzten Ruhepausen zwischen ihrer anstrengenden Arbeit überlegen die beiden Geschwister, ob sie in Marseille bleiben oder nach China zurückkehren sollen. Ist “not so bad” alles, was man sich als im Ausland lebende Migrant*in wünschen darf? 

FOUR JOURNEYS

Louis Hothothot wurde als illegales zweites Kind in China geboren. Seine Eltern wurden hart bestraft und mussten unter bitteren Sanktionen leiden. Nach langen Studienjahren in den Niederlanden kehrt der Filmemacher zu seiner Familie zurück und beginnt mit der Aufarbeitung und einem Prozess der Heilung unterdrückter Schuldgefühle und Kränkungen.   

Mit seiner manchmal einschüchternd wirkenden Kamera zwingt Louis seine Familie, sich ihrer traumatischen Vergangenheit zu stellen. Schonungslos stellt ihnen Fragen und Bemerkungen, um sie aus ihrer belastenden Vergangenheit herauszuholen. Das ist schmerzhaft, aber notwendig, denn “wenn die Erinnerungen in der Vergangenheit eingefroren sind, was kann dann den Schmerz auflösen?” (idfa)   

Dabei geht es nicht nur um Vergangenheitsbewältigung, sondern auch um seine eigene Identität zwischen angeeigneter westlicher Kultur und dem Festhalten an seiner chinesischen Herkunft.  

Louis Hothothot (Louis Yi Liu) ist ein Film- und Medienkünstler, Autor und Grafikdesigner, geboren und aufgewachsen in China. Er studierte Grafikdesign, Animation und Videokunst in Peking, ab 2012 am Dutch Art Institute, anschließend Film an der Netherlands Film Academy. FOUR JOURNEYS, sein erster Langfilm, eröffnete das IDFA 2022. https://louishothothotart.wordpress.com/ 

Regie, Kamera: Louis Hothothot
Montage: Chris van Oers, Louis Hothothot, Albert Elings
Musik: Harry de Wit
Produktion, Verleih: Pieter van Huystee Films

QINGTHE NEWSPAPER MAN

In einem hauptsächlich von Angehörigen der Yunnan University bewohnten Siedlungsgebiet im nordöstlichen Randbezirk Kunmings (Jiang An Community) finden regelmäßig »folk performances« statt (folk songs, Yunnan Oper – oder die so genannte Huadeng Oper). Unter den Zuschauern sind überwiegend »migrant worker« aus einer durch einen Fluss getrennten, angrenzenden dörflichen Siedlung. Dies führte Yi Sicheng zu der Idee, sich mit den Konzepten »symbolic structure of public space«, »migrant population« oder »floating population«, – alles Themen der Urban Anthropology in China, die auch zunehmend von Vertretern der sozialwissenschaftlich orientierten ChinaStudies aufgenommen werden – zu beschäftigen.

Yi Sicheng fand in der Person von Qing Baohua seinen idealen Protagonisten. Der Film dokumentiert einen ganz normalen Tag im Leben von Qing Baohua und stellt die beiden Seiten seiner Persönlichkeit dar. Denn einerseits arbeitet er als Zeitungsverkäufer, eine in China heute als sehr niedrig angesehene Tätigkeit ohne jedes soziale Prestige, andererseits bringt er den während seiner beruflichen Tätigkeit unterdrückten schauspielerischen Anteil seiner Persönlichkeit später im Laufe diverser »folk performances« voll zur Geltung. Der Zuschauer nimmt, vermittelt durch das Auge der Kamera, an dieser Persönlichkeitswandlung teil, die immer wieder von neuem geschieht, sobald Qing Baohua vor einem Publikum in seine unterschiedlichen Rollen schlüpft. Die Gespräche, die Qing mit seiner Geliebten führt, während er auf Suche nach Käufern für seine Zeitungen ist, weisen drastisch auf die schwierige soziale Lage der beiden hin. Genauso wie man den Inhalt der »folk performances« zwischen den Zeilen lesen muss, denn nur dort – unter der harmonischen Oberfläche versteckt – entdeckt man die subversive Energie der »low culture«.

Yi Sichengs Film lässt sich als verklausulierte Kritik an den, im heutigen China vielfach herrschenden, schwierigen sozialen und persönlichen Lebensumständen lesen.

Yi Sicheng ist 23 Jahre alt. Er studierte chinesische Sprache und Kultur, jetzt Visuelle Anthropologie an der Yunnan University.

NO MORE BOUND FEET

Es war Chen Xuelis und Li Jianqings Idee, mit ihrem Film die derzeitige soziale und ökonomische Situation auf dem Lande in China zu dokumentieren. Hierzu konzentrierten sie sich hauptsächlich auf die saisonalen Arbeiten in Chen Xuelis Heimatdorf, Xiangshuiba, im Kreis Lulian, Yunnan. Die Haupterwerbstätigkeiten in diesem, von geographischen Umständen begünstigten Dorf – es liegt genau an einer Flussbiegung des Persflusses (Zhujiang) – sind das saisonale Sammeln von Pilzen, der Fischfang und das Ausbaggern von Flusssand, der heute in China dringend zur Zementherstellung gebraucht wird und starke Abnahme findet. Das Sammeln von Pilzen wird von Frauen erledigt, während die Männer meist fischen. Das Ausbaggern und Abtransportieren des Sands wird von beiden Geschlechtern gemeinsam ausgeübt.

Um jedoch die Geschlechterverhältnisse und vor allem die soziale Rolle und den Status der jüngeren und älteren Frauen in dieser dörflichen Gesellschaft besser zu beschreiben, entschieden sich Chen Xueli und Li Jianqing, eine Hochzeit, die in Chen Xuelis Familie stattfand, zu dokumentieren und ein Portrait der weiblichen Dorfbevölkerung zu zeichnen. Sowohl die Geschlechterpositionen wie die Geschlechterbeziehungen beginnen sich im heutigen China langsam zu wandeln, trotzdem ist gerade in letzter Zeit die Rolle der jüngeren Frauen auf dem Lande äußerst prekär. Angezogen von den Verlockungen der Großstädte und immer noch eingebunden in traditionelle Verhaltens- und Denkmuster, sind diese Frauen psychisch sehr unter Druck geraten.

Chen Xueli (24) und Li Jianqing (23) studieren Visuelle Anthropologie an der Yunnan Universität.

DIE TAXISCHWESTERN VON XIAN

Wenn es ein nächstes Leben gäbe”, sagt eine Taxifahrerin aus der chinesischen Stadt Xian, “wäre ich lieber ein Hund als ein Mensch. Ein Mensch zu sein ist sehr anstrengend.” Tatsächlich unterliegen die Frauen, die oft länger als zehn Stunden täglich am Steuer sitzen, sehr strengen Bestimmungen: Ein Großteil ihrer Einnahmen geht an die Taxiverwaltung; Polizisten kassieren hohe Strafen, falls sie außerhalb der festgelegten Halteplätze parken. Fast tagtäglich gibt es neue Gebühren wie “Brückenzölle” oder “Sauberkeitsabgaben” und auch die Zahl der Überfälle hat rasant zugenommen. Regisseur Fang Yu porträtiert drei Taxifahrerinnen, erkundet ihre Lebensgeschichten und fragt nach den Gründen, warum sie diesen Beruf ausüben. Sein Film ist eine Hommage an die Kunst des Überlebens in harten Zeiten: “Wir glauben nicht an Gott und Teufel, wir glauben nur an uns.”

Fang Yu wurde 1953 in Xian geboren. Nach der Schule war er von 1970 bis 1973 im Arbeitseinsatz als “ideologische Umerziehung”. Später arbeitete er als Lastenträger, Tunnelbauer, Schlosser und Lagerist. Von 1978 bis 1982 studierte Fang Yu die deutsche Sprache in Beijing, 1984 – 1990 Theaterwissenschaft, Germanistik und Schauspiel in Köln und Berlin. Seit 1991 ist er freischaffend als Übersetzer, Schauspieler und Synchronsprecher tätig. DIE TAXISCHWESTERN VON XIAN ist sein erster Dokumentarfilm.

CITY SCENE

CITY SCENE ist eine Serie von Momentaufnahmen von Straßen und Plätzen Pekings, das sich auf die Olympischen Spiele vorbereitet. In meist festen Einstellungen fängt der Regisseur Alltagswirklichkeit ein: Freizeitaktivitäten, Straßenszenen, latente Gewalt. Die langen, ungeschnittenen und sorgfältig quadrierten Einstellungen schaffen Aufmerksamkeit für Orte und Details, für die Art, wie Menschen sich bewegen und zueinander verhalten. Zhao Liang nutzt auf eindrucksvolle Weise die Möglichkeit des Films, Wirklichkeit sichtbar zu machen, wie sie ist. 

Preise: Preis der Jury des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Kurzfilmfestival Oberhausen 2006 

Zhao Liang, geboren 1971 in Dandong, lebt und arbeitet in Peking; 1992 Abschluss an der Luxun Kunstakademie in Shenyang; 1993-94 Studium an der Filmakademie in Peking; zahlreiche Festivalteilnahmen und Ausstellungen weltweit. Filme: PAPER AIR PLANE (19972001), RETURN TO THE RIVER (2004/05).

THE ART OF REGRET

In ihrem brilliant beobachteten Dokumentarfilm untersucht die bekannte visuelle Anthropologin Judith MacDougall die digitale Revolution in China. Fotografie gilt hier als Kunst, die mit ‘Bedauern’, ‘Schmerz’ und ‘Trauer’ verbunden ist: als „art of regret“.
In Kunming, einer rasant sich verändernden Großstadt, sind sich die Leute nicht sicher, ob sie in der Fotografie ein Medium der Bewahrung und Beglaubigung sehen wollen oder eines der Veränderung und der Fantasie. Im digitalen Zeitalter kann alt in jung verwandelt werden; jeder kann sich schöner machen als er ist. Während sie in den Fotoshops der Kaufhäuser ihre computergenerierte Verschönerung genießen, schätzen die Einwohner Kunmings aber gleichzeitig auch die alten fotografischen Ansichten ihrer Stadt aus der Zeit vor deren Veränderung. Durch die Kulturrevolution wurden zahllose Fotos vernichtet: Erinnerungsmaterial, das unwiederbringlich verloren ist.
Im heutigen China entgeht niemand der Frage, wie Geschichte, Realität und materielle Kultur zu betrachten sind. THE ART OF REGRET ist eine ebenso tiefgründige wie wegweisende Meditation über den Gebrauch von Fotografie und Bildproduktion in einer Kultur, wo alles in Veränderung begriffen ist. 

Judith & David MacDougall wurden in den USA geboren. Nach dem Universitätsabschluss am Beloit College und der Harvard Universität studierten sie an der Universität von Kalifornien (UCLA) in Los Angeles Film. Im Rahmen eines neu eingerichteten, ethnografisch orientierten Filmprogramms begannen sie, sich mit der Visuellen Anthropologie zu beschäftigen. Aus diesen Anfängen entwickelte sich eine über Jahrzehnte währende, sehr innovative wie produktive Auseinandersetzung mit der Visuellen Anthropologie. Beide leben heute in Australien. 

Filme von Judith MacDougall: DIYA (2001), THE ART OF REGRET (2007).
Filme von David MacDougall: J. LEE THOMPSON: DIRECTOR (1967), MAN LOOKS AT THE MOON (1970), KENYA BORAN (1974), GOOD-BYE OLD MAN (1977), TO GET THAT COUNTRY (1978), LINK-UP DIARY (1987), TEMPUS DE BARISTAS (1993), DOON SCHOOL CHRONICLES (2000), WITH MORNING HEARTS (2001), KARAM IN JAIPUR (2003), THE AGE OF REASON (2004), SCHOOLSCAPES (2007), GANDHI’S CHILDREN (2008).
Filme Judith & David MacDougall: INDIANS AND CHIEFS (1967), IMBALU: RITUAL OF MANHOOD OF THE GISU OF UGANDA (1989), NAWI (1970), TO LIVE WITH HERDS (1972), UNDER THE MEN’S TREE (1974), THE WEDDING CAMELS (1977), LORANG’S WAY (1979), FAMILIAR PLACES (1980), THE HOUSE-OPENING (1980), PHOTO WALLAHS (1981), TAKEOVER (1989), A WIFE AMONG WIVES (1981), THREE HORSEMEN (1982), STOCKMAN’S STRATEGY (1984), COLLUM CALLING CANBERRA (1984), SUNNY AND THE DARK HORSE (1986), A TRANSFER OF POWER (1986).

RAILROAD OF HOPE

Jedes Jahr im Sommer verlassen tausende Landarbeiter die Provinz Sichuan und begeben sich auf eine 3000 Kilometer lange Zugreise in Richtung Westen, zur autonomen Region Xinjiang. Hier müssen riesige Baumwollfelder abgeerntet werden -auf die Arbeiter wartet eine schwere, aber für ihre Verhältnisse gut bezahlte Arbeit. Einige verlassen ihre Dörfer zum ersten Mal, einige sind noch nie mit der Bahn gefahren. Mit ihrer Kamera begleitet die Regisseurin Ning Ying die Zugreisenden auf ihrer strapaziösen Bahnreise. Das Ziel des Films war es, dieses relativ neue Phänomen der Migration innerhalb Chinas zu untersuchen und die vielen Arbeiter zu zeigen, die vor allem mit dem Zug unterwegs sind. Das Ergebnis ist ein Dokumentarfilm, in dem -vielleicht zum ersten Mal -chinesische Landarbeiter aus ärmlichen Gegenden in der Mitte Chinas zu Wort kommen und offen über ihr Leben sprechen. 

Ning Ying, geboren 1959 in Beijing gilt als eine der größten Regietalente Chinas. 1959 in Peking geboren, studiert sie gemeinsam mit Zhang Yimou an der Beijing Film Acadamy bevor sie für ein Auslandsstudium nach Italien geht. Dort assistiert sie 1987 Bernando Bertolucci bei den Dreharbeiten zu seinem Epos „Der letzte Kaiser“. Spielfilme: SOMEBODY FALLS IN LOVE WITH ME (1990), FOR FUN (1992), ON THE BEAT (1995), I LOVE BEIJING (2001), RAILROAD OF HOPE wurde 2002 beim Festival Cinéma du Réel in Paris als bester Film ausgezeichnet. 

ONCE UPON A TIME PROLETARIAN WOMEN

Über Vergangenes mache dir keine Sorgen, dem Kommenden wende dich zu” Diese fernöstliche Weisheit wirkt wie ein Leitspruch dieses filmischen Kaleidoskops des zeitgenössischen China in postmarxistischer Zeit. In zwölf Erzählungen berichten Menschen aus unterschiedlichsten sozialen Klassen aus ihrem Alltagsleben: da gibt es den Bauern, der sein Land verloren hat; ein Millionär, der mit seinem Kollegen in einem Börsenbüro plaudert; ein junger Wanderarbeiter, der in die Stadt kam, um Autos zu waschen; ein Arbeiter in einer Waffenfabrik, der sich wünscht, dass Mao noch am Leben wäre, um das Land zu retten; ein erfolgreicher Hotelbesitzer, der die liberale Wirtschaftspolitik des Landes lobt; und Jugendliche, deren Traum es ist, als Künstler im Westen berühmt zu werden. Von metaphorisch-komischen und absurden Kindergeschichten eingeleitet, treten in den einzelnen Kapiteln ganz unterschiedliche Motive zutage: Neben der trivialen Realität erfährt man Geschichten voller Verzweiflung, von einsamer Jugend und einer unsicheren Zukunft. ONCE UPON A TIME PROLETARIAN ist die Erforschung einer riesigen und zugleich komplexen Gesellschaft, die nach den revolutionären Zeiten nach neuen Anschauungen und Identitäten sucht, und zeigt den täglichen Kampf des Einzelnen mit der Geschichte des Landes auf. 

Ich wollte, dass dieser Film eine ganz bestimmte Zeit Chinas reflektiert, und zwar jene nach dessen dramatischen Revolutionen - der kommunistischen Revolution in den 40er Jahren und der seit den 80er Jahren andauernden Wirtschaftsrevolution.“ (Guo Xiaolu) 

Xiaolu Guo, geboren 1974, ist eine chinesische Schriftstellerin und Filmemacherin. In ihren Romanen und Filmen zeigt sie ihre eigene Vorstellung über die Vergangenheit und Zukunft Chinas. Ihr Spielfilm SHE, A CHINESE wird 2009 auf dem Locarno Film Festival mit dem Golden Leopard ausgezeichnet. Mit dem Dokumentarfilm WE WENT TO WONDERLAND wurde sie 2008 für die Serie New Directors/New Films im MoMA/Lincoln Center in New York ausgewählt. 

Der Pferdedieb

Zusammen mit Frau und Kind lebt Norbu im gebirgigen Hochland Tibets als Hirte - und als gelegentlicher Pferdedieb. Wo er, der einer kleinen ethnischen Minderheit angehört, sich an Tempelschätzen vergreift, werden er und seine Familie verbannt. Im Exil verliert er den Sohn. Nach einer entmutigenden Tierseuche und von seinem letzten Pferdediebstahl zur Flucht gezwungen, opfert er sich für seine Frau und das inzwischen neugeborene Kind, die anderswo ein neues Leben beginnen sollen. Er selbst schlägt den Weg zum Ort der ‘Himmlischen Bestattungen’ ein, wo die als heilig geltenden Geier seinen Körper beseitigen werden, damit die Seele vollkommen frei ist und in den Himmel aufsteigen kann. “Es ist ein langsamer Film. Er entspricht dem Lebensrhythmus des Dorfes. Der Film, in quasi ethnographischer Manier, folgt dem dörflichen Leben.” (M. Knaebel) (Fesitval Katalog 1989)